Full text: [Teil 1 = Sexta, [Schülerband]] (Teil 1 = Sexta, [Schülerband])

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„Der Herr hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich auf den 
Händen tragen. Denn er macht Sturmwinde zu seinen Boten, und die 
Lawinen, daß sie seine Befehle ausrichten" (nach Psalm 91,5; 104,4; 103,20). 
3. Anders ging es in Sturnen, ebenfalls im Kanton Uri. Nach dem 
Abendsegen sagte der Bater zu seiner Frau und den drei Kindern: „Wir 
wollen doch auch noch ein Gebet verrichten für die armen Leute, die in dieser 
Nacht in Gefahr sind." Und während sie beteten, donnerte schon aus allen 
Tälern der ferne Widerhall der Lawinen, und während sie noch beteten, 
stürzte plötzlich der Stall und das Haus zusammen. Der Vater wurde 
vom Sturmwinde hinweggeführt, hinaus in die fürchterliche Nacht, und 
unten am Berge abgesetzt und von dem nachwehenden Schnee begraben. 
Noch lebte er; als er aber den andern Morgen mit unmenschlicher An¬ 
strengung sich hervorgegraben und die Stätte seiner Wohnung wieder er¬ 
reicht hatte und sehen wollte, was aus den Seinigen geworden sei: barm¬ 
herziger Himmel! da war nur Schnee und Schnee und kein Zeichen einer 
Wohnung, keine Spur des Lebens mehr wahrzunehmen. Doch vernahm er 
nach langem, ängstlichem Rufen, wie a^ einem tiefen Grabe die Stimme 
seines Weibes unter bem Schnee herauf. Und als er sie glücklich und un¬ 
beschädigt hervorgegraben hatte, da hörten sie plötzlich noch eine bekannte 
und liebe Stimme. „Mutter, ich wär' auch noch am Leben", rief ein Kind, 
„aber ich kann nicht heraus." Nun arbeiteten Vater und Mutter noch 
einmal und brachten auch das Kind hervor, und ein Arm war ihm gebrochen. 
Da ward ihr Herz mit Freude und Schmerzen erfüllt, und von ihren Augen 
flössen Tränen des Dankes und der Wehmut. Denn die zwei andern 
Kinder wurden auch noch herausgegraben, aber tot. 
4. Kurz, in allen Bergkantonen der Schweiz, in Bern, Glarus, Uri, 
Schwyz, Graubünden sind in einer Nacht und fast in der nämlichen Stunde 
durch die Lawinen ganze Familien erdrückt, ganze Viehherden mit ihren 
Stallungen zerschmettert, Matten und Gartenland bis auf den nackten 
Felsen hinab aufgeschürft und weggeführt und ganze Wälder zerstört worden, 
also daß sie ins Tal gestürzt sind, oder die Bäume lagen übereinander 
zerschmettert und zerknickt, wie die Halme auf einem Acker nach dem Hagel¬ 
schlage. Sind ja in dem einzigen kleinen Kanton Uri fast mit einem 
Schlage 11 Personen unter dem Schnee begraben worden und sind nimmer 
auferstanden, gegen 30 Häuser und mehr als 150 Heuställe zerstört und 
359 Stücke Vieh umgekommen; und man wußte nicht, auf wievielmal 
100000 Gulden man den Schaden berechnen sollte, ohne die verlorenen 
Menschen. Denn das Leben eines Vaters oder einer Mutter oder eines 
frommen Gemahls oder Kindes ist nicht mit Gold zu schätzen. 
_ Nach Hebel.
	        
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