Full text: [Teil 1 = Sexta, [Schülerband]] (Teil 1 = Sexta, [Schülerband])

15 — 
4. Der Arme und der Reiche. 
I. 
Vor alten Zeiten, als der liebe Gott noch selber auf Erden unter 
den Menschen wandelte, trug es sich zu, daß er eines Abends müde war 
und ihn die Nacht überfiel, ehe er zu einer Herberge kommen konnte. 
Nun standen auf dem Wege vor ihm zwei Häuser einander gegenüber, 
das eine groß und schön, das andere klein und ärmlich anzusehen, und 
das große gehörte einem reichen, das kleine einem armen Manne. Da 
dachte unser Herr Gott: Dem Reichen werde ich nicht beschwerlich fallen, 
bei ihm will ich anklopfen. Als der Reiche an seiner Thür klopfen hörte, 
machte er das Fenster auf und fragte den Fremdling, was er suchte. Der 
Herr antwortete: „Ich bitte nur um ein Nachtlager." Der Reiche guckte 
den Wandersmann an vom Haupt bis zu den Füßen, und weil der liebe 
Gott schlichte Kleider trug und nicht aussah wie einer, der viel Geld 
in der Tasche hat, schüttelte er mit dem Kopfe und sprach: „Ich kann 
Euch nicht aufnehmen, meine Kammern liegen voll Kräuter und Samen, 
und sollte ich einen jeden beherbergen, der an meine Thüre klopft, so 
könnte ich selber den Bettelstab in die Hand nehmen. Sucht anderswo 
ein Unterkommen." Schlug damit sein Fenster zu und ließ den lieben 
Gott stehen. Also kehrte ihm der liebe Gott den Rücken, ging hinüber 
zu dem kleinen Hause und klopfte an. Kaum hatte er angeklopft, so klinkte 
der Arme schon sein Thürchen auf und bat den Wandersmann, einzutreten 
und bei ihm die Nacht über zu bleiben. „Es ist schon finster, sagte er, 
und heute könnt Ihr doch nicht weiter kommen." Das gefiel dem lieben 
Gott, und er trat zu ihm ein. Die Frau des Armen reichte ihm die 
Hand, hieß ihn willkommen und sagte, er möchte sich's bequem machen 
und vorlieb nehmen, sie hätten nicht viel, aber was es wäre, gäben sie 
von Herzen gern. Dann setzte sie Kartoffeln ans Feuer, und derweil sie 
kochten, melkte sie ihre Ziege, damit sie ein bißchen Milch dazu hätten. 
Und als der Tisch gedeckt war, setzte sich der liebe Gott zu ihnen und 
aß mit, und die schlechte Kost schmeckte ihm gut, denn es waren ver¬ 
gnügte Gesichter dabei. Wie sie gegessen hatten und Schlafenszeit war, 
rief die Frau heimlich ihren Mann und sprach: „Hör', lieber Mann, wir 
wollen uns heute nacht eine Streu machen, damit der arme Wanderer 
sich in unser Bett legen und ausruhen kann; er ist den ganzen Tag 
über gegangen, da wird einer müde." „Von Herzen gern, antwortete 
er, ich will's ihm anbieten," ging zu dem lieben Gott und bat ihn, 
wenn's ihm recht wäre, möchte er sich in ihr Bett legen und seine 
Glieder ordentlich ausruhen. Der liebe Gott wollte den beiden Alten 
ihr Lager nicht nehmen, aber sie ließen nicht ab, bis er es endlich that
	        
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