Am Baum der Menschheit. 271
122. Am Baum der WMenschheit.
Ferdinand Freiligrath. (Gekürzt.)
1. Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt' an Blüte,
nach ew'gen Regeln wiegen sie sich drauf;
wenn hier die eine matt und welk verglühte,
springt dort die andre voll und prächtig auf.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen,
und nun und nimmer träger Stillestand!
Wir sehn sie auf-, wir sehn sie niederwehen,
und jede Blüte ist ein Volk, ein Land!
2. Der Knospe Deutschland auch, Gott sei gepriesen!
regt sich's im Schoß! dem Bersten scheint sie nah —
frisch, wie sie Hermann auf den Weserwiesen,
frisch, wie sie Luther auf der Wartburg sah!
Ein alter Trieb! Doch immer mutig keimend,
doch immer lechzend nach der Sonne Strahl,
doch immer Frühling, immer Freiheit träumend —
o, wird die Knospe Blume nicht einmal?
3. Ja, voller Kelch! — Dafern man nur nicht hütet,
was frei und freudig sich entwickeln muß!
Dafern man nicht, was die Natur gebietet,
für Ranke nimmt und eitel wilden Schuß!
Dafern man zusieht, daß kein Meltau zehre
tief an der Blätter edlem, zartem Kern!
Dafern den Bast man wegwirft und die Schere!
Dafern — je nun, ich meine nur: dafern!
4. Ler du die Blumen auseinanderfaltest,
o Hauch des Lenzes, weh auch uns heran!
Der du der Völker heil'ge Knospen spaltest,
o Hauch der Freiheit, weh auch diese an!
In ihrem tiefsten, stillsten Heiligtume
o, küss' sie auf zu Duft und Glanz und Schein —
Herr Gott im Himmel, welche Wunderblume
wird einst vor allen dieses Deutschland sein!
5. Am Baum der Menschheit drängt sich Blüt' an Blüte,
nach ew'gen Regeln wiegen sie sich drauf;
wenn hier die eine matt und welk verglühte
springt dort die andre voll und prächtig auf.
Ein ewig Kommen und ein ewig Gehen
und nun und nimmer träger Stillestand!
Wir sehn sie auf-, wic sehn sie niederwehen —
und ihre Lose ruhn in Gottes Hand! 4044.)
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