Full text: [Teil 3 = Klasse 7, [Schülerband]] (Teil 3 = Klasse 7, [Schülerband])

115 
gewiß die Kundschaft entziehen, wenn sie um Bezahlung mahnte. 
Sie hatte schon öfter diese Erfahrung machen müssen. Und nun 
gar heute, am Weihnachtsabend. Nein, sie mußte einen anderen 
Ausweg finden. Sie sann und sann; kein Wertgegenstand mehr 
in ihrem Besitz, alles verkauft oder versetzt. Sie hätte gern ihren 
Mantel ins Pfandhaus getragen, wenn das so spät möglich ge¬ 
wesen wäre. Es war bitter kalt, aber sie fühlte die Kälte nicht, 
sie mußte eilen, heim zu kommen, und fahren durfte sie nicht; ihre 
Barschaft reichte knapp für das Fleisch und das Säftchen, und 
davon hatte sie schon einen Groschen für die Hinfahrt ausgegeben. 
Wielange war sie fort! Eine schreckliche Angst ergriff sie. Vielleicht 
lag Fritzchen im Fieber und rief nach ihr, und niemand war da, 
der seine fieberheiße Stirn kühlte und seinen Durst löschte. Und 
während sie voll Angst dahineilte, strahlten in den Fenstern neben 
ihr die Lichter an den Weihnachtsbäumen auf, hörte sie jubelnde 
Kinderstimmen. Der Schmerz, die Verzweiflung krampfte ihr Herz 
zusammen. „Nur nicht weinen lassen," hatte der Doktor gesagt. 
Und nun, wenn das Christkind ihm gar nichts brächte, würde 
Fritzchen weinen, und das könnte vielleicht sein Tod sein. „O, 
mein liebes, gutes, einziges Kind," stöhnte die arme Frau. Die 
Angst hing sich wie ein Bleigewicht an ihre Füße; als sie in die 
Nähe ihres Hauses kam, mußte sie einen Augenblick stehen bleiben 
und Atem holen. Da drang ein klagendes Stimmchen in ihr 
Ohr, das leise Wimmern eines Tieres. Sie spähte, woher es 
kam, und entdeckte, an ein Kellerfenster gedrückt, ein weißes Kätz¬ 
chen. Es zitterte vor Kälte. Voll Mitleid nahm die Frau das 
Tierchen auf den Arm; es sollte nicht verkommen vor Hunger und 
Kälte. Und — da kam es wie eine plötzliche Eingebung über sie: 
Das Tierchen hat das Christkindchen gebracht. 
Sie eilte ihrem Hause zu, sie hastete die Treppen hinauf; 
leise öffnete sie die Vortür und lauschte; völlige Ruhe im Zimmer. 
Rasch gab sie dem Kätzchen etwas Milch und zündete an dem Weih¬ 
nachtsbäumchen die Kerzenreste an, die noch vom letzten Jahre 
stammten. 
Damals sollten sie am Neujahrsabend abgebrannt werden. 
Da brach das Unglück über die Familie herein; als Todkranker 
lag der Vater danieder, und nach wenigen Tagen verließ er Frau 
und Kind für immer. Nun steckten die halb abgebrannten Kerzen 
8*
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.