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gewiß die Kundschaft entziehen, wenn sie um Bezahlung mahnte.
Sie hatte schon öfter diese Erfahrung machen müssen. Und nun
gar heute, am Weihnachtsabend. Nein, sie mußte einen anderen
Ausweg finden. Sie sann und sann; kein Wertgegenstand mehr
in ihrem Besitz, alles verkauft oder versetzt. Sie hätte gern ihren
Mantel ins Pfandhaus getragen, wenn das so spät möglich ge¬
wesen wäre. Es war bitter kalt, aber sie fühlte die Kälte nicht,
sie mußte eilen, heim zu kommen, und fahren durfte sie nicht; ihre
Barschaft reichte knapp für das Fleisch und das Säftchen, und
davon hatte sie schon einen Groschen für die Hinfahrt ausgegeben.
Wielange war sie fort! Eine schreckliche Angst ergriff sie. Vielleicht
lag Fritzchen im Fieber und rief nach ihr, und niemand war da,
der seine fieberheiße Stirn kühlte und seinen Durst löschte. Und
während sie voll Angst dahineilte, strahlten in den Fenstern neben
ihr die Lichter an den Weihnachtsbäumen auf, hörte sie jubelnde
Kinderstimmen. Der Schmerz, die Verzweiflung krampfte ihr Herz
zusammen. „Nur nicht weinen lassen," hatte der Doktor gesagt.
Und nun, wenn das Christkind ihm gar nichts brächte, würde
Fritzchen weinen, und das könnte vielleicht sein Tod sein. „O,
mein liebes, gutes, einziges Kind," stöhnte die arme Frau. Die
Angst hing sich wie ein Bleigewicht an ihre Füße; als sie in die
Nähe ihres Hauses kam, mußte sie einen Augenblick stehen bleiben
und Atem holen. Da drang ein klagendes Stimmchen in ihr
Ohr, das leise Wimmern eines Tieres. Sie spähte, woher es
kam, und entdeckte, an ein Kellerfenster gedrückt, ein weißes Kätz¬
chen. Es zitterte vor Kälte. Voll Mitleid nahm die Frau das
Tierchen auf den Arm; es sollte nicht verkommen vor Hunger und
Kälte. Und — da kam es wie eine plötzliche Eingebung über sie:
Das Tierchen hat das Christkindchen gebracht.
Sie eilte ihrem Hause zu, sie hastete die Treppen hinauf;
leise öffnete sie die Vortür und lauschte; völlige Ruhe im Zimmer.
Rasch gab sie dem Kätzchen etwas Milch und zündete an dem Weih¬
nachtsbäumchen die Kerzenreste an, die noch vom letzten Jahre
stammten.
Damals sollten sie am Neujahrsabend abgebrannt werden.
Da brach das Unglück über die Familie herein; als Todkranker
lag der Vater danieder, und nach wenigen Tagen verließ er Frau
und Kind für immer. Nun steckten die halb abgebrannten Kerzen
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