Full text: [Band 5 = Klasse 5, 6. Schuljahr, [Schülerband]] (Band 5 = Klasse 5, 6. Schuljahr, [Schülerband])

Da! Einige Tage weiter! Die Sonne hatte mit beiden Armen 
die nassen, grauen Wolkensäcke, die seit Wochen ihr den Ausblick ans 
ihre liebe Erde verwehrt hatten, hastig und unmutig zur Seite ge¬ 
schoben und blickte strahlend wie eine Mutter auf ihr wiedergefundenes 
Kind vom klaren, blauen Himmel herab, und schnell, als ob sie Ver¬ 
säumtes nachholen wolle, hatte sie das weiße Leichentuch aufgerollt 
und es dem brummend abrückenden Winter nachgeworfen. Sie winkt 
dem Westwind, und der kommt geflogen und fegt mit sausendem Besen 
über die schlaftrunkene Erde, packt mit unbarmherzigen Händen in 
die rasselnden Kronen der Eiche und Buche und schleudert die ver¬ 
gilbten Blätter hoch in die Luft, daß sie in tollen Wirbeln weithin 
über die Wiesen und Äcker tanzen. 
Der Wind ist fertig mit seiner Scheuerarbeit. Die Wälder, Hecken 
und Felder sind blitzeblank, nur Hainbuche und Eiche halten mit 
geizigem Finger auch jetzt noch ihre abgetragenen und verwetterten 
Sommerkleider fest. Es wird stille in der Natur, und die dunkle, weite 
Erde liegt erwartend da. Und nun gießt die Mutter Sonne in breiten, 
vollen Fluten ihr goldenes, wärmendes Licht in die stillen Weiten. 
Die Erde saugt in vollen, langen Zügen die goldene Flut in sich hinein 
und beginnt leise und langsam zu atmen. Da gibt's ein wunderbares 
Sehnen und Dehnen, Hasten und Drängen unter der stillen, schwarzen 
Decke. Und immer lockender, immer lauter klopft die strahlende Mutter 
dort oben mit ihren warmen Fingern auf die Brust ihrer zum Leben 
erwachten Tochter, und nicht lange, da sprießt es und sproßt es, da 
lebt es und webt es an allen Enden, da stecken tausend und abertausend 
Hälmchen und Knöspchen ihre spitzen, grünen Köpfchen neugierig aus 
der: weiten, dunkeln Falten der Erde hervor und strecken und recken 
sich und wollen schauen, wie's dort oben tut, und schauen der strahlenden 
Königin dort oben ins lächelnde Antlitz. Und in den Wipfeln der 
Bäume nicken die Vogel und üben ihre sangesfreudigen Kehlen zum 
großen Frühlingskonzert. 
Doch hat das sorglose Sängervölkchen nicht zu früh gejubelt? 
Siehst du da tief im Norden nicht die dicke, schwarze Wolke, und ist 
das nicht der Winter, der mit morddüstern Augen herüberblickt? 
O, er möchte dem kecken Vogelvolk den vorlauten Schnabel einmal 
stopfen und den Blumen und Hälmchen das Aufstehen einmal gründ¬ 
lich verleiden! Und in einer Nacht ist's gewesen, da ist das schwarze 
Ungeheuer im Norden plötzlich aufgestanden und ist fauchend heran¬ 
gekrochen. Und die Vögel in den Bäumen sind erschrocken zu¬ 
sammengefahren, und die kleinen Blumen haben zitternd ihre grünen 
Mäntelchen fester um die Schultern gezogen. 
Aber nur einmal! Die Sonne rief den Südwind, und wenn sie 
zu Bett gegangen, hat er Wache gestanden, und da ist der Winter
	        
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