Full text: Anhang zum 1. Band de[s] Lesebuch[s] für Latein- und Realschulen (Band 1, Anhang, [Schülerband])

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sinkt es wieder jäh zurück in das entstehende Wellenthal. Ein einziger 
Zusammenstoß mit den Seiten des Schiffes würde es vernichten, und 
mehr als je wird die Geschicklichkeit des steuernden Vormanns auf die 
Probe gestellt. Doch die Zeit drängt, das heraufsteigende Unwetter duldet 
keinen Aufschub, und es giebt nur einen Weg, die Schiffbrüchigen zu 
retten. „Über Bord mit euch, wir werden euch auffischen," ruft der 
Vormann ihnen zu, „aber schnell, fönst seid ihr verloren!" Die Un¬ 
glücklichen haben keine Wahl. Sie wagen den Sprung, einer nach dem 
andern, der Kapitän zuletzt, treu seiner Pflicht. Die tückische Woge 
schlägt über ihren Häuptern zusammen, doch beim Auftauchen erfaßt sie 
bald die rettende Hand, und alle werden glücklich geborgen. 
Es ist die höchste Zeit. Kaum hat das Boot seinen Kiel land¬ 
wärts gerichtet, da braust die Bö wie ein böser Geist daher. Wiederum 
verfinstert sich die Luft; wiederum türmen sich die Wogen und rasselt die 
Todestrommel. Das Boot saust dahin über die empörten Wasser, wie 
der Sturm ein welkes Blatt jagt. Nie ist die Gefahr größer gewesen. 
Die geringste falsche Bewegung des Steuers würde das Boot quer vor 
die Wellen bringen, und dann wäre das Kentern unvermeidlich. Doch 
das Auge des Vormanns wacht, und seine geschickte Hand hält das Fahr¬ 
zeug in der rettenden Richtung. 
Ein grauer Streifen schimmert durch den Wasserdampf — Land! 
Gottlob, es ist die richtige Stelle. Dort ragt die Flaggenstange empor, 
dort erkennt er die Gestalten seiner Lieben. Hoch oben auf dem Kamm 
der Welle stürmt das Boot den Strand hinauf. Blitzschnell springen 
die Ruderer hinaus, sobald es den Grund berührt und halten es aufrecht. 
Die zweite und die dritte Woge kommen donnernd herangerollt, aber sie ver¬ 
mögen nicht mehr zu schaden, sie müssen helfen es weiter hinauszuschieben, 
und bald ist es außer aller Gefahr. 
Ein donnerndes Hurra begrüßt Retter und Schiffbrüchige, doch der 
alte Vormann winkt mit der Hand. Er entblößt sein graues Haupt, und 
in Demut beugen alle die Kniee vor dem dort oben, der das Werk 
gelingen ließ und in größter Not seine Hand über ihnen hielt. 
Als die Bö vorüber war, suchte das Auge vergebens nach dem 
Wrack. Es war spurlos verschwunden. 
Die Ruine. 
Von G. Tschache. 
Nach einer stundenlangen Wanderung im Gebirge sahen wir plötz¬ 
lich die ersehnte Ruine aus einem hohen, steilen Bergkegel vor uns liegen. 
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, und ihre Strahlen warfen 
ein so glänzendes Licht auf die majestätischen Felsen, Türme und Mauer¬ 
reste, daß sie über die dunkeln Laubmassen im Vordergründe leuchtend 
hervorschimmerten. In wenigen Minuten befanden wir uns am Fuße
	        
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