183
Schrecken. Keiner rührte sich, als die geheimnisvollen Männer ein
Pergamentblatt, an dem ein grellrotes Siegel hing, an die Pforte
hefteten und einen Pfennig mit dem Bildnis des Kaisers in den Riegel
schoben. Sie schnitten dann drei Späne aus den Pfosten und ver¬
schwanden ebenso schnell und leise, wie sie gekommen waren.
Das Pergamentblatt enthielt die Ladung des Stuhlherrn an den
Qaugrafen Boto von Ruheneck, am Dienstag nach Sankt Petri vor
ihm zu erscheinen. Der Pfennig, der das Kaiserbild zeigte, be¬
deutete, daß das geheime Gericht im Namen des Kaisers geschehe,
und die Späne mußten die Männer, die Fronboten, dem Freigrafen
überbringen zum Zeichen, daß seine Ladung vollbracht war.
Der Gaugraf saß, als ihm der Torwächter das Pergamentblatt
reichte, beim Zechgelage; er ergriff den Humpen aus veneziani¬
schem Glas, der mit edelstem Rheinwein gefüllt vor ihm stand,
leerte ihn auf einen Zug und schrie: „Ich trinke auf die Vernichtung
der geheimen Feme!"
Dann warf er das Glas gegen die Wand, daß es in Scherben
zersplitterte, und rief: „Ich werde der Ladung folgen!“
Am Dienstag nach dem Sankt Petrifeste saß der Freigraf Rolf
von der Kemnade wieder mit den sieben Freischöffen unter den
vier Linden und wartete auf das Erscheinen des verfemten Gau¬
grafen von Ruheneck.
Die Wiese, in deren Mitte der Malplatz lag, war wieder mit
Bewaffneten gefüllt, und Rüdiger vom Berge, der mit Giso und Frau
Gerhilde gekommen war, die wieder Männertracht trug, sagte zu
dem Jüngling:
„Heute wirst du vor dem Freigrafen stehen. Du mußt selbst
die Klage wider den Gaugrafen führen. So ist’s Femsatzung."
„Was geschieht, wenn der Gaugraf nicht erscheint?" fragte Giso.
„Dann mußt du das Vollgericht fordern," erwiderte der Frei¬
schöffe, „das Urteil der Femrichter, daß das Recht auf deiner Seite
steht!"
„Welche Strafe trifft den Gaugrafen, wenn er der Ladung des
Freistuhles nicht folgt?" fuhr Giso fort.
„Die geheime Acht — der Tod durch die Wyd!“ war die Antwort.
Der greise Freigraf spannte wieder die Bank, und die Fron¬
boten drängten die Dingpflichtigen vom Malplatze, die sich wieder
am Waldessaum aufstellten und ihre Waffen bereit hielten.
„Warum tragen die Männer ihre Schwerter gezückt?" fragte
Giso den Freisassen, während seine Mutter ihnen zum Walde folgte.
„Es zeigt sich doch weit und breit kein Feind!"