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ihn ein in seinen Palast und setzt ihm das Fleisch eines Ermordeten
als Speise vor. Voll Entsetzen verläßt Zeus das Haus des Unholds
und schleudert die rächende Flamme in seine Burg. Bestürzt flieht
Lykaon aus das Feld hinaus. Sein Wehegeschrei wird zu wildem
Geheul, sein Gewand verwandelt sich in rauhes Haar, seine Arme
schrumpfen zu mageren Beinen zusammen, und bald steht an Stelle des
Königs ein scheußlicher Wolf.
44. Deukalion und Pyrrba. von c. Schmidt.
Griechische Sagen. Herausg. von C. Schmidt u. A. Floß. Berlin 1894. 8. 3.
Zeus die immer größere Verderbnis des Menschengeschlechtes sah,
Z\ beschloß er, es zu vernichten. Er sammelte ungeheure Regenwolken
am Himmel und ließ dann unaufhörlich. Tag und Nacht, gewaltige
Wassermassen herabstürzen. Sein Bruder Poseidon, der Beherrscher
aller Meere und Gewässer, befahl den Flußgöttern, die Dämme zu
zerreißen und ihre Fluten zügellos über die Fluren zu ergießen. Er
selbst aber stieß mit seinem Dreizack zornig auf, daß die Erde erbebte
und neue Ströme aus ihrem Innern ergoß, bis Häuser und Türme,
Hügel und Berge in dem wilden Wasserschwall versanken. Entsetzt irrten
Menschen und Tiere umher, erstiegen hohe Berge, retteten sich auf Schiffe
und Kähne — alles umsonst; was den Wogen glücklich entrann, siel
endlich dem Hunger zum Opfer.
Neun Tage und neun Nächte strömten schon die Wassermassen un¬
ausgesetzt, da ragte in Griechenland nur noch der mächtige Parnassos
aus der Flut hervor. Auf diesen rettete sich das einzige Menschenpaar,
das nach dem Willen der Götter übrigbleiben sollte: Deukalion und
Pyrrha. Beide waren gerechten, frommen Sinnes und ehrfurchtsvolle
Verehrer der Götter. Jetzt stillten diese die erregten Fluten; Meere
und Ströme kehrten in ihr Bett zurück, Berge, Hügel, Häuser und
Bäume tauchten hervor, und endlich lag die Erde wieder da, aber öde
und wüst.
Traurig blickte Deukalion um sich, Tränen rollten über seine Wangen.
Endlich sprach er zu seinem Weibe: „Wehe uns armen Einsamen, was
sollen wir beide auf der Erde? Ach, hätten die Himmlischen auch uns
des traurigen Daseins enthoben!"
Beide weinten und suchten Rat bei den Göttern. Am Fuße des
Parnassus, wo später das Delphische Orakel weissagte, warfen sie sich
an einem Altare der Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, nieder und
flehten: „Künde uns, du Hohe, wie sollen wir den Verlust des unter¬
gegangenen Geschlechts ersetzen?" Da antwortete die Göttin: „Verlasset
meinen Altar, umschleiert euer Haupt, löset die gegürteten Glieder und
werfet die Gebeine eurer Mutter rückwärts!"