Lange wußten sie sich den Sinn des Spruches nicht zu deuten;
endlich aber erkannte Deukalion die Bedeutung des Gebotes. „Die
Götter sind fromm und wollen keinen Frevel," sagte er. „Unser aller
Mutter ist die Erde; ihre Gebeine sind die harten Steine, die sollen wir
rückwärts werfen." Beide verhüllten nun ihre Häupter, lösten die Glieder
und warfen Steine rückwärts. Und siehe, die Steine regten sich und
nahmen menschliche Gestalt an. Aus den von Deukalion geworfenen
Steinen wurden Männer, aus denen der Pyrrha Weiber.
Aus harten Steinen war das neue Geschlecht erwachsen, und zu
harter Arbeit im Schweiße seines Angesichts war es bestimmt durch des
Göttervaters Ratschluß.
45. Von Gustav Schwab.
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. 26. Aufl., besorgt von Gotthold
Klee. Gütersloh 1898. 8. 69.
antalus, ein Sohn des Zeus, herrschte zu Sipylus in Lydien und
war außerordentlich reich und berühmt. Wenn je einen sterblichen
Mann die olympischen Götter geehrt haben, so war es dieser. Seiner
hohen Abstammung wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freundschaft
erhoben. Zuletzt durfte er an der Tafel des Zeus speisen und alles mit
anhören, was die Unsterblichen unter sich besprachen. Aber sein eitler
Menschengeist vermochte das überirdische Glück nicht zu tragen, und er
fing an, mannigfach gegen die Götter zu freveln. Er verriet den
Sterblichen die Geheimnisse der Himmlischen. Er entwandte von ihrer
Tafel Nektar und Ambrosia und verteilte den Raub unter seine irdischen
Genossen. Er barg den köstlichen goldenen Hund, den ein anderer aus
dem Zeustempel zu Kreta gestohlen hatte, und als dieser ihn zurück¬
forderte, leugnete er mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben. Endlich
lud er im Ubermute die Götter wieder zu Gaste, und um ihre All¬
wissenheit auf die Probe zu setzen, ließ er ihnen seinen eigenen Sohn
Pelops schlachten und zurichten. Nur Demeter, in kummervolle Ge¬
danken an ihre geraubte Tochter Persephone versunken, verzehrte von
dem gräßlichen Gericht ein Schulterblatt; die übrigen Götter aber merkten
den Greuel, warfen die Glieder des Knaben in einen Kessel, und die
Parze Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anstatt der ver¬
zehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne eingesetzt.
Jetzt hatte Tantalus das Maß seiner Frevel erfüllt und wurde
von den Göttern in die Hölle gestoßen, um hier von quälenden Leiden
gepeinigt zu werden. Er stand mitten in einem Teiche, und die Wasser
spielten ihm um das Kinn; dennoch litt er den brennendsten Durst und
konnte den Trank, der ihm so nahe war, niemals erreichen. Sooft er
sich bückte und den Mund gierig ans Wasser bringen wollte, entschwand