Full text: [Teil 4 = 5. Schulj, [Schülerband]] (Teil 4 = 5. Schulj, [Schülerband])

„So liegt meine Waldlilie im Schnee begraben", sagt der 
Bertold. Dann geht er zu den andern Holzern und bittet, wie 
diesen Mann kein Mensch noch so hat bitten gesehen, daß man 
komme und ihm das tote Kind suchen helfe. 
20 Am Abend desselben Tages haben sie die Waldlilie gefunden. 
Abseits in einer Waldschlucht, in finsterm, wildverflochtuem Dickicht 
junger Fichten und Zirbelkiefern, durch das keine Schneeflocke 
zu dringen vermag, und über dem die Schneelasten sich wölben 
und stauen, daß das junge Gestämm darunter ächzt, in diesem 
25 Dickicht, auf den dürren Fichtennadeln des Bodens, inmitten einer 
Rehfamilie von sechs Köpfen ist die liebliche, blasse Waldlilie ge¬ 
sessen. 
4. 
Es ist ein sehr wunderbares Ereignis. Das Kind hat sich 
auf dem Rückweg in die Waldschlucht verirrt, und da es die 
Schneemassen nicht mehr überwinden konnte, sich zur Rast unter 
das trockne Dickicht verkrochen. Und da ist es nicht lange allein 
5 geblieben. Kaum daß ihm die Augen anheben zu sinken, kommt 
ein Rudel von Rehen an ihm zusammen, alte und junge; und 
sie schnuppern an dem Mädchen, und sie blicken es mit milden 
Augen völlig verständig und mitleidig an, und sie fürchten sich 
gar nicht vor diesem Menschenwesen, und sie bleiben und lassen 
io sich nieder und benagen die Bäumchen und belecken einander und 
sind ganz zahm; das Dickicht ist ihr Winterdaheim. 
Am andern Tage hat der Schnee alles eingehüllt. Waldlilie 
sitzt in der Finsternis, die nur durch einen Dämmerschein ge¬ 
mildert ist, und sie labt sich an der Milch, die sie den Ihren 
15 hat bringen wollen, und sie schmiegt sich an die guten Tiere, 
auf daß sie im Froste nicht ganz erstarre. 
So vergehen die bösen Stunden des Verlorenseins. Und da 
sich die Waldlilie schon hinlegt zum Sterben und in ihrer Ein¬ 
falt die Tiere gebeten hat, daß sie getreulich bei ihr bleiben 
20 möchten in der letzten Sterbestunde, da fangen die Rehe jählings 
ganz seltsam zu schnuppern an und heben ihre Köpfe und spitzen 
die Ohren, und in wilden Sätzen durchbrechen sie das Dickicht, 
und mit gellendem Pfeifen stieben sie davon. 
Jetzt arbeiten sich die Männer durch Schnee und Gesträuch 
25 herein und sehen mit lautem Jubel das Mädchen, und der alte
	        
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