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So geht es mehrmals fort, und zuletzt stürzt das schwarzwilde
Wassertröpflein in einen Flutz oder Strom und wird hinunterge¬
schwemmt ins Meer. Aber so grotz und unergründlich das Meer auch
ist, die kleine Welle geht darin nicht verloren; und es gibt ein Auge,
das jedem Tropfen im Meere nachkommt, woraus jene Welle zu¬
sammengesetzt war.
Man sagt oft, die Zeit sei wie ein Flutz und die Ewigkeit wie
ein unendliches Meer. Nun denn, ein Tag im Menschenleben, ein
„Heute" ist gerade so wie eine kleine Welle, die im Bache schwimmt
und sich hebt und glänzt und wieder versinkt.
Es quillt der Tag hervor aus der Nacht und dem Schlafe, glitzert
und zittert eine Weile an der Helle und sinkt wieder hinab in die
Nacht und den Schlaf. So ein Tag ist eine Spanne Zeit, ein Schritt,
ein Pendelschlag, ein Ruck vorwärts. Jeder Tag ist eingeklemmt
zwischen zwei Nächten; ein Tag kommt dem Alten zuletzt noch vor, wie
wenn man im Finstern Feuer schlägt, wie wenn es in der Nacht blitzt.
O Mensch, du kannst die Uhr zum Stillstände bringen, aber
nicht die Zeit und nicht dein „Heute". Die Gelehrten sagen, die Erde
mit allem, was darauf ist, jage schneller im Weltenraume fort als
eine losgeschossene Büchsenkugel, ohne datz wir es sehen. Das ist das
stille Jagen, der stille Sturm der Zeit. Latz dein Leben nicht darin
zerbröckeln und zerstäuben in verdorbene, nutzlos verlebte Tage.
Jeder Tag wird auferstehen von den Toten ins ewige Leben, dir zum
Gerichte oder zur schönen Seligkeit. Aber du bist nur Herr und Eigen¬
tümer des heutigen Tages; die vergangenen Tage sind unauslöschlich
eingeätzt im Buche deines Lebens, und vielleicht kommt bald das
letzte Blatt, dein letzter Tag; und der Sarg, in den sie dich legen, ist
der Gedankenstrich zu deinem verflossenen Erdenleben. Dann nagelt
der Schreiner noch den eisernen Schlutzpunkt hinein, der Totengräber
aber wirft den Streusand über dich hin mit seiner Schaufel.
169. Wiege und Sarg.
(Fr. L. Würkert.)
Ruhestätten gibt es gar viele im Leben, und wer kennt nicht
unter ihnen die zwei wichtigsten! Die eine steht an der Eingangs¬
schwelle des Lebens, die andere an der Ausgangsschwelle desselben.
Verschieden, sehr verschieden, ja völlig entgegengesetzt scheinen sie in
ihrem Zwecke zu sein, und doch sind beide einander nahe verwandt.
Aus Brettern ist die Wiege gezimmert und so auch der Sarg-
Im Walde stand einst ein Baum, von welchem die Bretter genommen