Full text: Für die Klasse V (Teil 2 = Unterstufe, [Schülerband])

Odysseus. 
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11. Odysseus und Penelope. 
Jahrelang hatten die übermütigen Freier die edle Penelope durch 
unerhörte Frechheit gekränkt und das Gut des Odysseus verpraßt. Nun 
ereilte sie das Verderben, alle erlitten durch die Hand des mächtigen 
Königs den Tod. Erst als dies geschehen war, erlaubte Odysseus der alten 
Dienerin Eurykleia, der schlafenden Penelope die Botschaft von der Rückkehr 
ihres Gemahls zu überbringen. Diese stieg zum Söller hinauf, um der 
Herrin zu verkünden, daß der treue Gatte daheim sei. Eilig regten sich 
ihre Kniee und Füße; sie trat ihr zu Häupten und sprach: „Wach aus, 
Penelope, geliebtes Kind, daß du mit Angen schauest, wonach du Tag 
für Tag verlangt! Odysseus ist gekommen und weilt im Hause, der spät 
Heimgekehrte, und hat die stolzen Freier erlegt, die das Haus ihm ver¬ 
wüstet, das Gut verpraßt und den Sohn bedrängt haben." Ihr ant¬ 
wortete die sinnige Penelope: „Lieb Mütterchen, dich haben die Götter 
bethört, welche auch Einsichtige thöricht und den Albernen klug zu machen 
vermögen; sie müssen es dir angethan haben, da du sonst verständigen 
Sinnes warst. Was spottest du mein in meiner tiefen Trauer mit 
solchem Geschwätz und weckst mich aus dem süßen Schlummer, der mir 
die lieben Wimpern bedeckte; so tief habe ich noch niemals geschlafen, 
seit Odysseus nach dem unseligen Ilion, des Name vertilgt sei, aus¬ 
gezogen. Nun gehe hinab und zum Saale zurück; hätte mir eine andere 
meiner Frauen solche Meldung gebracht und mich im Schlafe gestört, 
so hätte ich sie hart angelassen und weggeschickt; dich schützt diesmal 
dein Alter." 
Und es antwortete die geliebte Amme Enrykleia: „Wie sollte ich 
dein spotten, geliebtes Kind! Nein, wahrhaftig, Odysseus ist gekommen 
und weilt im Hause, wie ich sage; der Fremde, den alle im Saale be¬ 
schimpft, war niemand anderes als er. Telemach wußte es längst, daß 
er angekommen sei; aber klug hielt er des Vaters Vorhaben geheim, 
um der übermütigen Männer Gewaltthat zu ahnden." So sprach sie; 
da ergriff jene die Freude, sie sprang vom Lager auf, umarmte die Alte, 
und Thränen entströmten ihr. Doch nochmals wurde sie irre an der 
Nachricht und wollte mit eignen Augen schauen, was geschehen. Sie 
stieg vom Söller herab und überschritt die steinerne Schwelle; Odysseus 
gegenüber setzte sie sich in des Feuers Schein; der aber saß an der 
hohen Säule, den Blick zu Boden gesenkt, und wartete, ob die untadlige 
Gemahlin ihn anreden werde, da sie ihn nun mit den Augen schaute. 
Doch saß sie lange stumm, und Staunen hatte ihr Herz befangen. Bald 
meinte sie, ihn von Gesicht zu kennen, bald schien er ihr fremd, da ihn 
schlechtes Gewand bedeckte. Erst als ihr Odysseus Wahrzeichen nannte, 
die nur er und sie kannten, da erbebten ihr die Kniee und das liebe
	        
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