Schwab: Einnahme und Zerstörung Trojas.
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er auf den König Priamus selbst, der an einem unter freiem Himmel er¬
richteten Aitare Jupiters im Gebete lag. Gierig zückte Neoptolemus sein
Schwert, und Priamus blickte ihm furchtlos ins Auge. „Tödte mich," rief
er, „Kind des tapfern Achilles! Nachdem ich so viel ertragen und fast
alle meine Kinder habe »sterben sehen, wie möchte ich länger das Licht der
Sonne schauen? O hätte mich schon dein Vater getödtet! So labe denn
du dein muthiges Herz an mir und entrücke mich allem Jammer!" —
„Greis," erwiderte Neoptolemus, „du ermahnst mich zu dem, wozu mich
mein eigenes Herz antreibt!" Und damit trennte er leicht das Haupt des
ergrauten Greises vom Rumpfe, wie ein Schnitter in der Sommerhitze die
Aehre auf dem trockenen Saatfelde abmäht; es rollte zu Boden weit hin,
und der Rumpf lag mit andern Trojanischen Leichen vermischt. Grausamer
noch verfuhren die gemeinen Krieger des Griechischen Heeres; sie hatten im
Palaste des Königs den Astyanax aufgefunden, Hektars zarten Sohn, rissen
ihn aus den Armen der Mutter und schleuderten ihn aus Haß gegen den
Hektor und sein Geschlecht von der Zinne eines Thurmes hinab. Als er
der Mutter entrissen wurde, rief diese den Räubern entgegen: „Warum
stürzet ihr nicht auch mich von der schrecklichen Mauer herab oder in die
lodernden Flammen? Seit mir Achilles den Gatten getödtet, lebte ich nur
noch in unserem Kinde; befreit auch mich von der Qual eines läugern
Lebens!" Aber die Mörder erhörten sie nicht und gingen davon.
So fand sich der Tod bald in diesem Hause ein, bald in jenem, und
nur ein einziges verschonte er; dies war die Wohnung des greisen Tro¬
janers Antenor, der einst den Menelaus und Odysseus, als sie nach Troja
gekommen waren, am Leben erhalten und gastfreundlich bewirthet hatte.
Dafür schenkten ihm jetzt die Danaer dankbar Leben und Besitzthum. An
andern Stellen raste der Mord. Menelaus fand vor den Gemächern seiner
treulosen Gemahlin Helena den Deiphobus, den Sohn des Priamus, der
seit Hektors Tode die Stütze des Hauses und Volkes war. Bei der An¬
näherung des Menelaus flüchtete Deiphobus in die Gänge des Palastes.
Menelaus aber ereilte ihn und stieß ihm den Speer in den Nacken. „Stirb!"
rief er mit donnernder Stimme, „hätte doch meine Lanze den Unheilstifter,
den Paris, also getroffen! Nun ist dieser schon längst geschlachtet!" So
sprechend, stieß Menelaus den Leichnam auf die Seite urü> ging hin, den
Palast zu durchforschen; denn er wünschte die Helena, seine Gemahlin, zu
sehen. Diese hielt sich, vor dem Zorne ihres rechtmäßigen Gatten zitternd,
in einem dunkeln Winkel des Hauses verborgen, und erst spät gelang
es ihm, sie zu entdecken. Bei ihrem ersten Anblicke trieb es ihn, sie
zu ermorden; aber Venus hatte sie mit holder Schönheit geschmückt, stieß
ihm das Schwert aus der Hand und verscheuchte den Grimm aus seiner
Brust. Es war ihm unmöglich, bei ihrem Anblick das Schwert aufs neue
zu erheben. Da hörte er die den Palast durchtobenden Griechen, und es
erschien ihm sein Bruder Agamemnon, der, plötzlich hinter ihm stehend, die
Hand auf seine Schulter legte und ihm zurief: „Laß ab, lieber Bruder
Menelaus! Es geziemt sich nicht, daß du dein eheliches Weib, um welches
wir so viele Leiden erduldet haben, erschlagest. Lastet ooch die Schuld
weniger auf Helena, wie mich dünkt, als auf Paris, welcher so schnöde
das Gastrecht gebrochen hat. Dieser aber, sein ganzes Geschlecht, sein