9. Herkules am Scheidewege.
9
9. KerKules am Scheidewege.
Als Herkules auf dem Kithäron weilte, in einem Lebensalter, in
dem der Knabe zum Jüngling wird und die ersten ernsten Blicke in die
Zukunft wirft, zog er eines Tages von Hirten und Herden weg in die
Einsamkeit und überlegte still dasitzend, in ernste Gedanken versunken,
welchen Lebenspfad er in Zukunft wandeln sollte. Da sah er zwei
stattliche Frauen auf sich zukommen. Die eine zeigte in ihrem Aussehen
Anstand und hohen Adel; ihren Leib schmückte Reinlichkeit, Bescheiden¬
heit ihr Auge; ihre Haltung war sittsam, fleckenlos rein ihr weißes
Gewand. Anders die andere. In ein üppiges Gewand gekleidet, be¬
schaute sie sich selber mit Wohlgefallen, und herausfordernd ließ sie ihr
stolzes Auge hierhin und dorthin schweifen. Als die beiden Frauen
näher an Herkules herankamen, schritt sie eilend auf ihn zu und
Mach: „Ich sehe, Herkules, daß du unschlüssig bist, welchen Weg des
Lebens du einschlagen sollst. Wenn du mich zur Freundin erwählst,
wirst du den angenehmsten und an Freuden reichsten Weg wandeln;
du wirst kein Vergnügen ungekostet lassen und ein Leben sonder Be¬
schwerde leben. Um Kriege wirst du dich wenig bekümmern; deine
einzige Sorge wird sein, wie du an köstlichen Dingen dich ergötzest und
dein Auge, dein Ohr und alle Sinne erfreuest. Und glaube nicht, daß
ich dich durch mühevolle Arbeit, durch Gefahr und Rot dahin bringen
werde; du wirst vielmehr die Früchte fremden Fleißes genießen und
nichts von dem entbehren, was irgend Gewinn bringen kann. Denn
ich gewähre meinen Freunden die Freiheit, von allem Nutzen zu ziehen."
Als Herkules diese Versprechungen hörte, fragte er: „O Weib, wie
ist dein Name?" Sie antwortete: „Meine Freunde nennen mich das
Glück, meine Feinde aber, die mich schelten wollen, nennen mich das
Laster." Unterdessen war auch das andere Weib herangetreten. Dieses
nahm nunmehr das Wort und sprach: „Folge du mir, o Herkules!
Wisse wohl, ohne Arbeit und Mühe gewähren die Götter den Menschen
kein Gut. Willst du, daß die Freunde dich lieben, so mußt du den
Freunden dienen; willst du geehrt sein bei deinen Mitbürgern, so mußt
du dich ihnen nützlich erweisen; wenn du wegen deiner Tugend die Be¬
wunderung des ganzen Hellas erregen willst, so mußt du sein Wohl¬
thäter werden. Soll das Land dir Früchte tragen, so mußt du es be¬
bauen; willst du durch deine Herde reich werden, so mußt du sie pflegen.
Willst du kriegen und siegen, so mußt du die Künste des Krieges lernen
und üben; soll dein Körper deinem Willen dienstbar sein, so mußt du
pflrch Arbeit und Schweiß ihn abhärten." Hier flel das Laster ihr in
pse Rede und sprach: „Lang und schwierig ist der Weg, auf welchem
bieses Weib zu Glück und Freude dich zu führen verspricht. Ich aber
werde dich auf leichtem und kurzem Pfade zur Seligkeit geleiten."
'/Unselige," sprach die Tugend, „was für Gutes besitzest du denn? Du