Full text: [Teil 2, [Schülerband]] (Teil 2, [Schülerband])

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22. Rettung aus Sturmflut. 
über der weiten Ausdehnung der unglücklichen Küste lag eine pech¬ 
schwarze Nacht, doppelt grausig für die Unglücklichen. Es war ein 
unbeschreiblicher Jammer über Emden gekommen, denn in seinen 
Strassen tobte die Meeresflut mit entsetzlicher Gewalt. 
Damals bewohnte die Familie des Kaufmanns Ahrens mit noch 
mehreren Leuten ein Haus am Hafen von Emden. Das Haus war 
alt und lag der Sturmflut völlig preisgegeben. Sie umtobte es mit 
rasender Gewalt und wühlte seine Grundmauern auf. Es konnte 
nicht lange mehr der Gewalt Widerstand leisten. Die Bewohner 
sahen ihren Untergang vor Augen; der Jammer war grenzenlos. 
Die Gefahr stählte das Herz des ältesten Sohnes der Familie, eines 
wackeren, kräftigen Jünglings. Vater und Mutter untergehen zu 
lassen, ohne auch nur einen Versuch zur Rettung zu wagen, das 
ertrug sein kindlich treues Herz nicht. Ohne ein Wort zu sagen, 
stürzte er sich unbemerkt in die wilden, empörten Gewässer. Er 
war ein tüchtiger Schwimmer. „Gottes Beistand wird dir nicht 
fehlen,“ dachte er gläubig, „denn was du thust, gilt ja der Rettung 
deiner teuern Eltern.“ — Seine Absicht war, eins der von den Fluten 
losgerissenen und umhertreibenden Boote zu erreichen und es zur 
Rettung seiner Eltern und Angehörigen zu verwenden. Was er 
unternommen, war ein gefährliches Stück Arbeit. Das Wellenge¬ 
brause war furchtbar, die Macht des Sturmes fast unwiderstehlich, 
die Nacht so finster, dass man kaum auf Handlänge etwas zu sehen 
vermochte, die Kälte des Wassers und des Sturmes erstarrend und 
schneidend. Von Gottvertrauen und Liebe zu den Seinen erfüllt, 
teilt er kräftigen Armes die Flut; aber wie er auch spähet, wohin 
er sich auch wendet, — nirgends ist ein Boot zu finden. Über¬ 
menschlich sind seine Anstrengungen. — Schon fühlt er, wie seine 
Glieder erstarren, schon wird es ihm klar, dass er sinken und unter¬ 
gehen muss, wenn ihm der Herr nicht bald ein Boot zuführt — da 
sieht er vor sich ein herrenloses Boot. Er hebt seinen Arm empor, 
er hat den Bord gefasst. Noch einmal strengt er alle seine Kräfte 
an — er ist im Boote. „Gottlob! Gottlob!“ ruft er in den Kampf 
der Elemente hinaus, und betend setzt er hinzu: „0 Herr, hilf! 
o Herr, lass wohlgelingen!“ Er ergreift ein Ruder, und — dahin 
schiefst das Boot wie ein Pfeil. Jetzt ist er in der Strasse. Dort 
steht das Elternhaus! Nach wenig Minuten legt er unter dem Fenster 
des zweiten Geschosses an. Die trostlosen Eltern leben auf, denn 
der Verlorengeglaubte lebt und bringt Rettung. Sie steigen ein, die 
Verzagenden, denn ein Teil des Hauses war schon eingestürzt — 
und wenige Minuten noch, so sind alle gerettet. Kurz darauf stürzte 
das Haus ein.' 
W. 0. von Horn.
	        
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