102
IV. Sagen.
das Verbot des Oheims zu übertreten, und heimlich, von den Wächtern,
welche die Leiche ihres Bruder bewachten, unbemerkt, begrub sie den ge¬
liebten Toten. Die Tat wurde ruchbar, und, seiner Ankündigung getreu,
gebot Kreon, Antigone zum Tode zu führen. Vergebens beschwor
ihn sein Sohn Hämon, der Antigone liebte, von seinem grausamen
Vorhaben abzustehen, vergebens drohte er, sich selbst das Leben zu
nehmen, wenn Antigone sterben müsse. Kreon blieb unerbittlich. Er
ließ die Jungfrau in ein steinernes Gewölbe einschließen, wo sie den
Hungertod sterben sollte. Da verkündete der greise Teiresias dem
Könige, daß ihn für seinen Frevelmut der Zorn der Götter treffen
werde. Schnell nahm Kreon sein Gebot zurück; aber schon war es zu
spät. Antigone hatte Hand an sich gelegt, uni dem qualvollen Hunger¬
tode zu entgehen, und Hämon hatte sich, seine Drohung erfüllend,
ein Schwert in die Brust gestoßen. Als die Botschaft ihren Weg zu
dem königlichen Palaste fand, sank die Gemahlin des Kreon entseelt
zur Erde. Des Königs trotziger Mut war gebrochen. Jammernd
und all der Seinigen beraubt, lebte er einsame und traurige Tage,
bis ihn der Tod erlöste. — So endete das unglückliche Geschlecht des
Ödipus.
Kelden- und Keereszüge.
45. Der Argonautenzug. )ason und Medea.
Gustav Schwab. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Gütersloh und Leipzig.
1.
Der böotische König Athamas hatte zwei Kinder, einen Sohn
namens Phrixus und eine Tochter mit Namen Helle. Deren Mutter,
Nephele, aber hatte er verstoßen, um sich mit einer andern Frau, Ino
genannt, zu vermählen, die den Kindern eine böse Stiefmutter wurde
und ihnen nach dem Leben trachtete. Ihre rechte Mutter aber rettete
sie; sie setzte die Kinder auf einen geflügelten Widder, deffen Vließ (Fell)
von Golde war, und den sie vom Gotte Hermes (Merkur) zum
Geschenk erhalten hatte. Auf diesem Wundertiere ritten Phrixus und
Helle davon. Als sie nun aber eine Zeitlang geflogen waren, wurde
Helle vom Schwindel erfaßt und stürzte von dem Widder herab in den
Teil des Meeres, der seitdem nach ihr Helles Meer oder Hellespontus
genannt wird. Phrixus kam glücklich in das Land der Kolchier und
wurde hier von dem Könige Äetes gastfreundlich aufgenommen. Er
opferte den Widder, der ihn gerettet hatte, dem Zeus und schenkte das