111
134. Willegis.*
1. 1Es sahn am Thum zu Mainz die adeligen Herrn »Den
Willegis zum Bischof nicht allerwege gern. »Der war ein Wag⸗
nerssohn: Sie malten ihm zum Hohn, Mit Kreide Räder an
die Wand: Die sah er wo er gieng und stand, 'Doch es nahm
Willegis 8An dem Schimpf kein Aergerniß.
71. iDenn als der fromme Bischof die Räder da ersehn,
2So hieß er seinen Knecht nach einem Maler gehn. s„Komm,
Maler male mir. Ob jeder Thür dahier. Ein weißes Rad im
rothen Feld, Darunter sei die Schrift gestellt: Willegis, Wil- 10.
legis, Denk', woher du kommen sis!“
. Mun wurde von den Herren am Thum nicht mehr
geprahlt; 2Man sagt, sie wischten selber hinweg was sie gemalt.
Mie sfahn, dergleichen thut Bei weisem Mann nicht gut. Und
was dann für ein Bischof kam, Ein jeder das Rad ins Wappen 15.
nahm. Also ward Willegis sGlorie das Aergerniß.
5.
135. Graf Richard von der Normandie.*
1Graf Richard von der Normandie 2Erschrak in seinem Leben
nie. Er schweifte Nacht wie Tag umher, Manchem Gespenst
begegnet er; »Doch hat ihm nie was Graun gemacht sBei Tage 20.
noch um Mitternacht. Weil er so viel bei Nacht thät reiten,
sSo gieng die Sage bei den Leuten, Er seh' in tiefer Nacht so
licht, Als mancher wohl am Tage nicht. Er pflegte, wenn er
schweift' im Land. So oft er wo ein Münster fand, Wenn's
offen war, hineinzutreten, Wo nicht, doch außerhalb zu beten.
so Eo traf er in der Nacht einmal Ein Münster an im öden Thal;
u Da gieng er fern von seinen Leuten, WNachdenklich, ließ sie für—
baß reiten. wESein Pferd er an die Pforte band, 20 Im Innern
einen Leichnam fand. *!Er gieng vorbei hart an der Bahre 2 Und
kniele nieder am Altare, WWarf auf 'nen Stuhl die Handschuh
eilig, Den Boden küßt' er, der ihm heilig. 2Noch hatt' er nicht
gebetet lange, * Da rührte hinter ihm im Gange * Der Leichnam
sich auf dem Gestelle. * Der Graf sah um und rief: „Geselle! Du
feist ein guter oder schlimmer, WLeg' dich auf s Ohr und rühr' dich
nimmer!“ Dann erst er sein Gebet beschloß, Weiß nicht ob's
klein war oder groß. Sprach dann, sich segnend: „Herr mein Seel'
Zu deinen Händen ich empfehl. »Sein Schwert er faßt' und
wollte gehen, 6 Da sah er das Gespenst aufstehen. 3 Sich drohend
ihm entgegen recken, »Die Arme in die Weite strecken, Als wollt'
es mit Gewalt ihn fassen Und nicht mehr aus der Kirche lassen. 40.
u Richard besann sich kurze Weile, *Er schlug das Haupt ihm in
zwei Theile, Ich weiß nicht, ob es wehgeschrien, Doch mußt's
den Grafen lassen ziehn. 8Er fand sein Pferd am rechten Orte;
* August Kopisch. — Vgl. Nr. 51. * Altfranzösisch, Ludwig Uhland.