Full text: [Bd. 1, [Schülerband]] (Bd. 1, [Schülerband])

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rief er aus, was hast du nun von allem deinem Reichthum? Was ich 
einst von meiner Armuth auch bekomme: ein Todtenkleid und ein 
Leintuch, und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Ros— 
marin auf die kalte Brust, oder eine Raute. Mit diesen Gedanken 
begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, 
sah den vermeinten Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhe— 
stätte, und ward von der holländischen Leichenpredigt, von der er 
kein Wort verstand, mehr gerührt, als von mancher deutschen, auf 
die er nicht Acht gab. Endlich gieng er leichten Herzens mit den 
andern wieder fort, verzehrte in einer Herberge, wo man deutsch 
verstand, mit gutem Appetit ein Stück Limburger Käse, und wenn 
es ihm wieder einmal schwer fallen wollte, daß so viele Leute in 
der Welt so reich seien, und er so arm, so dachte er nur an den 
Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein 
reiches Schiff und an sein enges Grab. 
10. 
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169. Herr von Münchhausen erzählt. 
Auf meiner Reise nach Rußland ritt ich einst im tiefen Winter, 
bis Nacht und Dunkelheit mich überfielen. Nirgends war ein Dorf 
zu hören noch zu sehen. Das ganze Land lag unter Schnee, und 
ich wußte weder Weg noch Steg. 
Des Reitens müde, stieg ich endlich ab, und band mein Pferd 
an eine Art von spitzem Baumstaken, der über dem Schnee hervor— 
ragte. Zur Sicherheit nahm ich meine Pistolen unter den Arm, 
legte mich nicht weit davon in den Schnee nieder, und that ein 
so gesundes Schläfchen, daß mir die Augen nicht eher wieder auf— 
giengen, als bis es heller, lichter Tag war. Wie groß war aber mein 
Erstaunen, als ich fand, daß ich mitten in einem Dorfe auf dem 
Kirchhofe lag! Mein Pferd war anfänglich nirgends zu sehen; doch 
hörte ich's bald darauf irgendwo über mir wiehern. Als ich nun 
emporsah, so wurde ich gewahr, daß es an den Wetterhahn des 
Kirchthurms gebunden war, und von da herunter hieng. Nun 
wußte ich sogleich, wie ich daran war. Das Dorf war nämlich die 
Nacht über ganz zugeschneit gewesen; das Wetter hatte sieh auf 
einmal umgesetzt; ich war im Schlaf nach und nach, sowie der 
Schnee zusammengeschmolzen war, ganz sanft herabgesunken; und 35. 
was ich in der Dunkelheit für den Stumpf eines Bäumchens, der 
über dem Schnee hervorragte, gehalten, und daran mein Pferd ge— 
bunden hatte, das war das Kreuz oder der Wetterhahn des Kirch— 
thurms gewesen. 
Ohne mich nun lange zu bedenken, nahm ich eine von meinen 40. 
Pistolen, schoß nach dem Halfter, kam glücklich auf die Art wieder 
zu meinem Pferde und verfolgte meine Reise. 
Hierauf gieng alles gut, bis ich nach Rußland kam, wo es 
* Nr. 169- 171 aus Des Freiherrn von Münchhausen wunderbare Reisen 
und Abenteuer zu Wasser und zu Lande. (Von G. A. Bürger.) 
Mager, Deutsches Elementarwerk. 1. 1. Vierzehnte Aufl. 10
	        
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