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dem voraus, dem es wohl geht; dieser aber vor dem Reichen und
Unglücklichen gar viele. Der eine vermag besser einen Wuͤnsch zu
befriedigen und großen Verlust zu tragen; der andere hat vor jenem
Folgendes voraus: für Verluste und Wünsche ist er zwar nicht so
wohl versehen wie jener, allein davor bewahrt ihn sein gutes Glück;
dann hat er keinen Leibesschaden, ist frei von Krankheit, frei von
Unglück, ist ein glücklicher Vater, ein wohlgebildeter Mensch. Wenn
er dazu noch sein Leben wohl beschließt, so hast du denjenigen, den
du suchst, der den Namen des Glücklichen verdient. Bevor er aber
10. geendet hat, halt inne, und sage noch nicht: er ist glücklich, sondern
es geht ihm wohl. Daß nun ein Mensch alles dieses umfasse, ist
unmöglich; wie ja auch kein Land sich alles erzeugen kann, sondern:
das eine hat es, eines anderen bedarf es, welches aber das meiste
hat, das ist das beste. So ist es auch mit den menschlichen Ge—
schöpfen, ein einziges besitzt niemals alle Vollkommenheiten; sondern
dies hat es, des andern ist es bedürftig. Wer aber die meisten
Güter besitzt, und in ihrem Besitze bleibt, und zuletzt sein Leben auf
schöne Weise endigt, der, o König, ist in meinen Augen würdig,
diesen Namen zu tragen. Doch muß man von jedem Ding das
Ende schauen, wie es einst ausgeht. Denn viele, denen die Gottheit
das Glück lockend zeigte, hat sie von Grund und Boden aus ver—
nichtet.“ Auf solche Reden bezeugte ihm Krösus ferner keine Gunst,
sondern entließ ihn auf geringschätzige Weise, indem er dachte, das
müsse ein rechter Thor sein, der ohne Rücksicht auf die gegenwärtigen
25. Güter das Ende eines jeden Dinges beachten hieß.
Nach diesen Dingen kam von Gott ein großes Strafgericht über
den Krösus, wahrscheinlich weil er glaubte, er sei von allen Men—
schen der glücklichste. Er wollte nämlich die wachsende Macht der
Perser unter ihrem großen König Cyrus brechen. Das delphische
Orakel hatte ihm geweissagt: „wenn Krösus über den Halys zieht,
so wird er ein großes Reich zerstören.“ Er zog über den Fluß. Die
Lydischen Heere wurden geschlagen, die Perser nahmen Sardes ein,
und Krösus selbst wurde gefangen genommen: er hatte, nach dem
Orakelspruch, sein eigenes großes Reich zerstört. Die Perser führ—
ten ihren Gefangenen vor Cyrus: dieser ließ einen großen Scheiter⸗
haufen errichten, und auf denselben ließ er den König Krösus in
Fesseln und mit ihm zweimal sieben Lydische Knaben bringen, viel—
leicht um irgend einer Gottheit damit ein Opfer zu entrichten. So
that Cyrus. Dem Krösus aber, wie er auf dem Scheiterhaufen
stand, fiel in seinem großen Unglück Solons Wort ein, das er nicht
ohne göttliche Eingebung gesprochen habe: „nenne niemanden von
den Lebenden glücklich.“ Wie ihm dies vor die Seele trat, da ath—
mete er tief und seufzete laut, und durch die tiefe Stille, die herrschte,
rief er dreimal den Namen: Solon. Und Cyrus, der dies hörte,
befahl den Dolmetschern, den Krösus zu befragen, wen er da an—
rufe; und diese traten heran und fragten. Krösus blieb eine Weile
stille, ohne zu antworten: darauf aber, als sie ihn nöthigten, sagte
er: „Ich rufe einen an, den ich mit allen Herrschern reden lassen
möchte: mir wäre es lieber, als große Schätze Goldes.“ Da ihnen
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