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der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz alle, die ihren Wert fühlten oder zu
fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung
am meisten murrten, waren — der Affe und der Esel.
G. E. Lessing (1759). Fabeln. Hrsg, von Boxberger. Kürschners Nat.-Llt. Bd. 58. S. 246 f.
25. Das Fest des höchsten Wesens.
Das höchste Wesen gab einst in seinem Azurpalaste ein großes
Fest. Hierzu waren die Tugenden eingeladen und gar viele, große
und kleine, hatten sich eingefunden. Sie unterhielten sich in freund¬
lichster Weise miteinander, wie sich das für Verwandte und Bekannte
geziemt. Da bemerkte das höchste Wesen zwei schöne Gäste, die ein¬
ander gar nicht zu kennen schienen. Er nahm den einen bei der
Hand und führte ihn zum andern. „Die Wohltätigkeit“ sprach er,
auf den einen weisend, und „die Dankbarkeit“ fügte er hinzu, den
andern vorstellend. Beide Tugenden waren höchst erstaunt: seit Er¬
schaffung der Welt — und das war schon lange her — begegneten
sie einander zum erstenmal.
J. 8. Turgenjew. L. u. P. Auspitz, Meisterprosa. Wien o. J. Bd. 1, 8. 10.
26. Drei Freunde.
Ein Mann hatte drei Freunde. Zwei derselben liebte er sehr;
der dritte war ihm gleichgültig, ob dieser es gleich am redlichsten
mit ihm meinte. Einst ward er vor Gericht gefordert, wo er un¬
schuldig, aber hart verklagt war. „Wer unter euch,“ sprach er, „will
mit mir gehen und für mich zeugen? Denn ich bin hart verklagt
worden und der König zürnt.“ Der erste seiner Freunde entschuldigte
sich sogleich, daß er nicht mit ihm gehen könne wegen anderer
Geschäfte. Der zweite begleitete ihn bis zur Tür des Richthauses;
da wandte er sich und ging zurück aus Furcht vor dem zornigen
Richter. Der dritte, auf den er am wenigsten gebaut hatte, ging
hinein, redete für ihn und zeugte für seine Unschuld so freudig,
daß der Richter ihn losließ und beschenkte.
Drei Freunde hat der Mensch in dieser Welt. Wie betragen
sie sich in der Stunde des Todes, wenn ihn Gott vor Gericht fordert?
Das Geld, sein bester Freund, verläßt ihn zuerst und geht nicht mit
ihm. Seine Verwandten und Freunde begleiten ihn bis zur Tür des
Grabes und kehren wieder in ihre Häuser. Der dritte, den er im
Leben oft am meisten vergaß, sind seine wohltätigen Werke. Sie
allein begleiten ihn bis zum Throne des Richters, sie gehen voran,
sprechen für ihn und finden Barmherzigkeit und Gnade.
Joh. Gottfr. v. Herder. Werke. Hrsg. v.H.Lambel. Kürschners Nat.-Lit. Bd. 75. S. 226 f.
27. Tod und Schlaf.
Brüderlich umschlungen durchwandelten der Engel des Schlum¬
mers und der Todesengel die Erde. Es ward Abend. Sie lagerten
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