Full text: (Für die sechste Klasse) (Abteilung A, [Schülerband])

Der Flachs. 
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Darauf kam das Leinen ins Äaus und unter die Schere; man 
schnitt und stach mit der Nähnadel darein, daß es ein Vergnügen an¬ 
zusehen war. Aus dem Leinen wurden nun zwölf Stück Wäsche, zwölf 
Äemden, die alle Menschen nötig haben, ganze zwölf Stück! 
„Nein, seht doch, nun bin ich erst recht zu etwas geworden! 
Das also war meine Bestimmung! Wie herrlich! Nun stifte ich Nutzer: 
in der Welt, und das ist's ja doch, wonach man trachten soll, das ist 
die wahre Genugtuung! Wir sind zwölf Stück geworden, aber wir sind 
doch alle eines und dasselbe, wir sind ein Dutzend. Welch beispiel¬ 
loses Glück!" 
Jahre verstrichen, da konnte das Leinen nicht mehr halten. 
„Einmal muß es ja vorbei sein!" sagte jedes Stück. „Ich hätte 
gern noch etwas länger gehalten, allein man muß nichts Unmögliches 
begehren!" Lind nun wurden sie in Fetzen gerissen, so daß sie glaubten, 
es sei aus mit ihnen; denn sie wurden zerhackt, zu Brei gerührt und 
gekocht; sie wußten selbst nicht, wie ihnen geschah, und zuletzt waren 
sie zu feinem weißen Papier geworden. 
„Das nenne ich eine Überraschung, eine wirklich großartige Über¬ 
raschung!" sagte das Papier. „Jetzt bin ich feiner als vorher, und 
nun werde ich beschrieben werden! Was läßt sich nicht alles schreiben! 
Welch endloses Glück ist mir beschert!" Lind das Papier wurde be¬ 
schrieben, die herrlichsten Geschichten kamen darauf zu stehen; die Leute 
hörten, was darauf geschrieben stand, und das war alles so richtig und 
so gut, daß die Menschen klüger und besser davon wurden; es wurde 
zum wahren Segen, was diese Papiere in Worten enthielten. 
„Das ist mehr, als ich mir hätte träumen lassen, als ich noch ein 
kleines blaues Blümchen auf dem Felde war. Wie hätte es mir ein¬ 
fallen können, daß ich dazu bestimmt sein sollte, Freude und Kenntnisse 
unter den Menschen zu verbreiten! Ich begreife es selbst noch nicht, 
aber es ist doch nun einmal wirklich so. Gott weiß, daß ich selbst 
weiter nichts dazu beigetragen habe, als was ich um meiner eigenen 
Erhaltung willen nach meinen schwachen Kräften tun konnte, und doch 
bereitet er mir eine Freude nach der anderen! Jedesmal, wenn ich 
meine, das Lied sei aus, geht es zu etwas höherem und Besserem 
über. Nun werde ich wohl auf Reisen gehn und in die Welt gesandt 
werden, damit alle Menschen mich lesen können. Das ist das Wahr¬ 
scheinlichste. Sonst hatte ich blaue Blumen, jetzt habe ich die schönsten 
Gedanken. Ich bin und bleibe der allerglücklichste auf der Welt!" 
Aber das Papier kam nicht auf Reisen, sondern zum Buchdrucker. 
Äier wurde alles, was darauf geschrieben stand, zu einem Buch ge¬
	        
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