Full text: [Teil 1, [Schülerband]] (Teil 1, [Schülerband])

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59. Der Seesturm. 
Bald sahen wir nur noch den Himmel über uns und die 
weite Meeresflut ringsumher. Da plötzlich stiegen dunkle Wetter¬ 
wolken auf, und es erhob sich ein heftiger Wirbelwind. Hoch 
auf bäumten sich die Wogen, mit weifsem Schaum bedeckt; 
schreckliche Blitze zuckten aus dem unheildrohenden Gewölk. 
Immer lauter rollte der Donner, immer wilder heulte der 
Sturm; dabei ward es so finster, als wäre es Nacht. Unser 
schwaches Fahrzeug schaukelte von einer Seite auf die andere 
und füllte sich mit Wasser. Auf einmal fuhr ein entsetzlicher 
Windstoss heran; das Tauwerk zerriss wjfv dünne Fäden, mit 
lautem Gekrach stürzte der Mast und traf den Steuermann, dass 
er entseelt hinsank. Gleich darauf zuckte ein blendender Blitz 
hernieder und zerschmetterte das Verdeck des Schiffes. Meine 
armen Gefährten stürzten von den Ruderbänken ins Meer und 
kämpften vergebens um ihr Leben. Einen nach dem andern 
verschlangen die Wogen. Auch das Schiff rissen sie auseinander. 
Ich, der einzige Überlebende, hatte mich fest an den Kiel 
geklammert; den band ich mit dem zerbrochenen Mastbaum 
zusammen und schwang mich hinauf. Der Wind war jetzt nach 
Süden umgeschlagen und trieb mein Floss geradeswegs nach der 
gefährlichen Meerenge der Skylla und Charybdis zurück. 
Zufällig hing über dem Schlunde eine mit Erde und Moos 
bedeckte Klippe, aus der ein Feigenbaum hervorgewachsen 
war. Den schlanken Stamm ergriff ich mit Macht und hielt mich 
mit Armen und Beinen daran fest, während der Strudel mein 
Floss in den tiefen Abgrund zog. So hing ich zwischen Tod 
und Leben; aber ich wusste, dass die Charybdis das, was sie 
verschlungen hatte, bald wieder ausspie. Sobald mein treues 
Floss wieder auf der Oberfläche erschien, sprang ich schnell 
hinauf, und richtig trieb mich der Strudel wieder aus der Kluft 
aufs hohe Meer. Neun Tage und neun Nächte lang irrte ich auf 
dem stürmischen Wasser umher, bis meine Glieder von Kälte 
starr waren und ich glaubte, dass ich sterben müsse. Am 
zehnten Tage warf mich das Meer an den Strand der Insel, wo 
die Nymphe Kalypso wohnt. Die nahm mich freundlich auf, 
aber sie wollte mich nicht wieder fortlassen und hielt mich neun
	        
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