199
Es sollte den Nachweis erbringen, daß die wahre Religion in keinem
der drei Hauptbekenntnisse (Judentum, Christentum, Muhamedanismus)
nach ihrem tiefsten Gehalte ausgedrückt sei, sondern daß sich die echte
Religion offenbare in der wahrhaft erkannten Menschen Pflicht und der
werktätig geübten Menschenliebe. Diese Grundidee kleidet er in die
Parabel von den drei Ringen, eine Eleichnisrede, die selbst aus dem
- bilderreichen Lande stammt, in das er die Handlung der Dichtung verlegt.
Daß er nicht etwa dem Judentum den Vorzug vor dem Christentum zuteilen
will, beweist die zweite Schrift „Die Erziehung des Menschenge¬
schlechts" (1780). In drei Stufen vollzieht sich die Erziehung, die Gott
dem Menschengeschlechte angedeihen läßt. Deren erste wird bezeichnet
durch das alttestamentliche Gesetz; das Androhen von Strafen und das
Versprechen von Belohnungen sollen den Menschen vor dem Bösen schrecken
und zum Guten locken. Höher steht die Erziehung des Evangeliums Christi;
der Antrieb zum Guten soll in dem Menschen selbst begründet werden; doch
auch hier sind Strafe und Belohnung als Zuchtmittel noch nicht ausge¬
schlossen, wenn auch deren Eintritt erst in einem späteren Leben erfolgen
soll. Die höchste Stufe der Erziehung ist auch von Christus für eine
spätere Zeit verheißen, wenn die Liebe das höchste Gesetz geworden sein
wird und jeder das Gute tut um des Guten willen. Dieses Evangelium
der Liebe bildet auch den Inhalt der dritten Schrift: „Das Testament
Johannis". Die Legende berichtet, der Apostel Johannes habe in
seinem höchsten Greisenalter sich in die Christenversammlung tragen lassen
und seine ganze väterliche Fürsorge in die herzliche Ermahnung zusammen¬
gefaßt: „Kindlein, liebet einander!" denn in der Liebe liegt des Gesetzes
Erfüllung.
Der gleiche Wunsch erfüllte auch die große Seele Lessings; in ihm be¬
ruhte seine Hoffnung auf die Vollendung menschlicher Glückseligkeit; denn
diese Liebe ist ihm eins mit der Wahrheit, nach der er sein lebenlang
strebte, für die er gestritten und gelitten hat; sie bildet darum auch sein
Testament. Der Tod ereilte ihn am 15. Februar 1781 in Braun schweig,
wohin er sich zum Besuche begeben hatte.
Auch die übrigen zahlreichen hier nicht genannten Schriften Lessings
dienen alle dem einen großen Zwecke, die Erkenntnis der Wahrheit zu
fördern. Seine umfassende Gelehrsamkeit, in welcher nur wenige ihm
gleichgekommen sind, sowie sein durchdringender Scharfblick wurden be¬
herrscht von seinem Charakter, an dem kein Schatten oder Makel haftet;
so wurde er zum größten Forscher und Kritiker, den die deutsche Wissen¬
schaft kennt.
Die deutsche Literatur verdankt ihm Unendliches; er befreite sie end¬
gültig aus den Banden einer unrühmlichen Nachahmung des Auslandes
und gründete sie in dem nationalen Boden. Der dramatischen Dichtung
gab er drei unvergängliche Vorbilder; die deutsche Prosa hat er geschaffen.