Full text: Deutsches Lesebuch für Quinta (Teil 2, [Schülerband])

H. Steffens: Rübezahl als Hüter der Springwurzel. 153 
Augen drohend an, die struppigen, langen Haare und ein großer Mantel 
flogen durch den Sturm vorwärts, in der Hand trug sie eine übergroße, 
knotige Keule. „Was thust du da?" schrie ihn die Gestalt an, und ihm 
deuchte, als wäre die donnernde Stimme von dem Sturme nicht zu unter¬ 
scheiden. Der Bauer, ein tollkühner Mensch, überwältigte seinen Schauder 
und antwortete: „Ich suche die Springwurzel, eine kranke Frau will sie 
mir teuer bezahlen." — „Die du hast, darfst du behalten," schrie die 
Gestalt, „aber wage nicht noch einmal zu kommen!" schwang mit furcht¬ 
barer Gebärde die Keule und verschwand. 
Nachdenklich ging der Bauer vom Berge herunter, und die Frau in 
Liegnitz dünkte sich überaus glücklich, als sie zur Linderung ihrer Schmerzen 
sich im Besitze der heilsamen Wurzel sah. Ihre Krankheit nahm sichtbar 
ab, und da sie nur von dieser Wurzel völlige Heilung erwartete, so ließ 
sie den Bauer noch einmal kommen. „Wagst du es noch einmal, die 
Springwurzel zu holen?" fragte die Frau. „Liebe, gnädige Frau," ant¬ 
wortete der Bauer, „das erste Mal ist mir der Herr des Gebirges in 
entsetzlicher Gestalt erschienen, mich also schwer bedrohend, daß ich es nicht 
zum zweiten Male wagen mag." Aber die Frau überwand seine Furcht 
durch die größten Versprechungen; sie wollte ihm eine viel größere 
Summe bezahlen als das erste Mal. Da vermochte der Bauer nicht zu 
widerstehen, und zum zweiten Male wagte er es, den einsamen Gang in 
das innere Heiligtum des Gebirges anzutreten. Als er nun die Wurzel 
zu graben anfing, erhob sich ein furchtbarer Sturm aus derselben Stelle 
wie das erste Mal, und als er hinblickte, erschien die Gestalt noch viel 
drohender. Die wilden Haare, der große Mantel flogen und schienen auf 
ihn zuzufliegen, aus den Augen sprühte Feuer, die furchtbare Stimme, 
die abermals zu ihm hinschrie: „Was thust du da?" hallte wieder von 
den kahlen Felsen und schien aus der schwindelnden Tiefe mit doppelter 
Gewalt emporzusteigen; und als er nun antwortete: „Ich suche die 
Springwurzel, eine kranke Frau will sie mir teuer bezahlen," da brüllte 
die erzürnte Gestalt: „Hab' ich dich nicht gewarnt, du Unsinniger? Und 
du wagst noch einmal zu kommen! Doch du hast sie schon; rette dich, 
wenn du kannst!" Und die Flammen aus den blitzenden Augen schienen 
den Erbebenden zu treffen und ihm das Gesicht zu verbrennen, die mäch¬ 
tige Keule flog durch die Luft und schlug ganz dicht neben ihm tief in 
den harten Felsen hinein, der Boden bebte, ein schauderhafter Donnerschlag 
betäubte ihn, und er sank bewußtlos hin. Nach langer Zeit kan» er wieder 
zu sich. Er war wie zermalmt, die Keule verschwunden, in der Ferne 
hörte er donnern und glaubte die drohende Stimme in dem Donner zu 
vernehmen; aber in der Hand hielt er die Springwurzel fest und kroch, 
von: Regen durchnäßt, vom Nebel umhüllt, von irrenden Geistern bald 
hierhin, bald dorthin gelockt, die ganze Nacht und den folgenden Tag 
umher, ohne zu wissen, wo er war, bis ihn ein Köhler fand und nach
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.