Full text: Deutsches Lesebuch für Quinta (Teil 2, [Schülerband])

Brüder Grimm: Das Totenhemdchen. Jacob Grimm: Das Thränenkrüglein. 7 
II. Märchen. 
14. Das Totenhemdchen. 
Von den Brüdern Grimm. Kinder- und Hausmärchen. 
Es hatte eine Mutter ein Vüblein von sieben Jahren. Das war so 
schön und lieblich, daß es niemand ansehen konnte, ohne ihm gut zu sein, 
und sie hatte es auch lieber als alles aus der Welt. Nun geschah es, 
daß es plötzlich krank ward und der liebe Gott es zu sich nahm; dar¬ 
über konnte sich die Mutter nicht trösten und weinte Tag und Nacht. 
Bald darauf aber, nachdem es begraben war, zeigte sich das Kind nachts 
an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen und gespielt hatte; weinte 
die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen kam, war es ver¬ 
schwunden. Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte zu weinen, 
kam es in einer Nacht mit seinem weißen Totenhemdchen, in welchem es 
in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen aus dem Kopf, setzte 
sich zu ihren Füßen auf das Bett und sprach: „Ach, Mutter, höre doch 
auf zu weinen, sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn 
mein Totenhemdchen wird nicht trocken von deinen Thränen, die alle da¬ 
rauf fallen." Da erschrak die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht 
mehr. Und in der andern Nacht kam das Kindchen wieder, hielt in der 
Hand ein Lichtchen und sagte: „Siehst du, nun ist mein Hemdchen bald 
trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grabe." Da befahl die Mutter 
dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und geduldig, und das Kind 
käm nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen Bettchen. 
15. Das Thränenkrüglein. 
Von Jacob Grimin. Mythologie. 
Einer jungen Frau war das einzige Kind gestorben; sie weinte über 
alle Maßen und konnte sich nicht zufrieden stellen. Jede Nacht lief sie 
hinaus auf das Grab und jammerte, daß es die Steine hätte erbarmen 
mögen. In der Nacht vor dem Dreikönigsfeste sah sie Frau Holle nicht 
weit von ihr vorüberziehen; da gewahrte sie den andern Kindern hinter¬ 
drein ein kleines mit eineni ganz durchnäßten Hemdchen angethan, das in 
der Hand einen Krug mit Wasser trug und matt geworden den übrigen 
nicht folgen konnte. Ängstlich blieb es vor einem Zaune stehen, den Frau 
Holle überschritt und die andern Kinder überkletterten. Die Mutter er¬ 
kannte in diesem Augenblicke ihr Kind, eilte hinzu und hob es über den 
Zaun. Während sie es so in den Armen hielt, sprach das Kind: „Ach, 
wie warm sind Mutterhände! aber weine nicht so sehr, du weinst mir
	        
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