92 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen. 6) Griechische Sagen. -
beschieden sich dem Elend zu entwinden, das ihn umringt. Doch ich
gedenke ihn noch tüchtig in Mühsal umzutreiben".
So sprach er und führte Gewölk herauf'und empörte das Meer,
den Dreizack in der Hand; aller Winde Sturmeshauch ließ er drein¬
fahren, und dabei umzog er Meer wie Land mit Wolken. Nacht war's
am Himmel geworden. Alle Winde brachen zusammen los und wälzten
ungeheure Wogen daher, und eine mächtige Woge brach von oben herein mit
furchtbarem Andrang und fchlug das Fahrzeug um. Odysseus ließ das
Steuer aus der Hand fahren und fiel weit ab von dem Floße ins Meer.
Nun zerbrach der furchtbare Wirbel der kämpfenden Winde den Mast in
der Mitte, daß Segel und Rahe weithin ins Meer geschleudert wurden.
Lange war er unter Wasser und versuchte vergebens in der hoch¬
gehenden Woge sich oben zu halten, denn die Kleider beschwerten ihn,
die ihm die hohe Kalypso gegeben. Spät erst tauchte er auf und spie
das bittere Meerwasser aus dem Munde, das ihm in Strömen vom
Haupte rann. Doch gab er in seiner Not das Floß nicht auf, sondern
arbeitete sich durch den Wogenschwall ihm nach und erfaßte es glücklich.
Er setzte sich in seiner Mitte nieder, für diesmal dem Tode entronnen.
Nun trugen es die mächtigen Wogen mit der Strömung bald hierhin,
bald dorthin.
Da erblickte ihn Kadmos' Tochter Leukothea, die ehedem ein Men¬
schenkind mit Menschenstimme gewesen war, jetzt aber in den Meeres¬
fluten göttlicher Ehren genoß. Sie erbarmte sich des umtreibenden, be¬
drängten Odysseus, setzte sich auf das feste Floß und sprach die Worte:
„Unglückskind! Warum zürnt dir Poseidon so schrecklich? Doch trotz
aller Wut wird er dich nicht zu Grunde richten. Aber thu, wie
ich sage. Zieh die Kleider aus und suche schwimmend das Land der
Phüaken zu erreichen, wo dir zu entrinnen bestimmt ist. Da, nimm
diese Götterbinde und schlinge sie unter die Brust; dann brauchst du
Not und Tod nicht zu fürchten. Aber sobald du das feste Land
mit den Händen berührst, nimm sie ab und wirf sie ins Meer!"
So sprach die Göttin, reichte ihm ihre Hauptbinde und tauchte in die
wogende See, einem Wasserhuhn gleich, und es barg sie die dunkle
Woge.
Da warf Poseidon, der Küstenerschütterer, eine mächtige, über¬
gewölbte Woge auf und ließ sie mit furchtbarer Gewalt auf Odysseus
niederschlagen. Wie wenn ein Windstoß einen trocknen Kornhaufen
zerfegt, daß die Spreu nach allen Seiten auseinanderfährt, so zer¬
fuhren die langen Balken des Floßes. Aber Odysseus schwang sich
rittlings aus einen Balken. Nun warf er die Kleider ab, die ihm die
hohe Kalypso gegeben, band flugs die Binde unter die Brust, breitete
die Arme aus und sprang kopfüber ins Meer zu rüstigem Schwimmen.
So trieb er denn zwei Nächte und zwei Tage in dem Wogenschwall
dahin, immer den Tod vor Augen. Aber als Eos den dritten Tag
heraufführte, legte sich der Wind, und hauchlose Meeresstille trat
ein. Und als er nun, von einer größeren Welle gehoben, ausspähte
mit scharfem Blick, sah er in der Nähe Land.