Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

106 A. Erzählende Prosa. IV. Sagen. 6) Griechische Sagen. 
dich mit einem Gastgeschenk erfreuen kann. Der tausend! Was ist 
das für ein herrliches Getränk! Hier wächst auch Wein, große Trauben, 
süß von Geschmack, aber wahrhaftig gegen diesen ist er nur Wasser. 
So recht! Mehr her! Ich schenkte ihm dreimal voll, und er schlürfte 
in vollen Zügen, der Tropf. Bald sah ich mit innigem Vergnügen, 
wie der starke Wein seine Sinne umnebelte. Da fiel mir eine treffliche 
List ein. Höre, sprach ich, meinen Namen begehrst du? Nun so wisse 
denn: Niemand heiß' ich, Niemand nennen mich Vater und Mutter und 
alle anderen Leute. Dann reiche mir aber auch das Gastgeschenk, das 
du versprochen hast. — Wohl, sprach der Grausame, so soll Niemand der 
letzte sein, den ich von euch allen verzehre. Nehmt das als Gastgeschenk 
von mir an! 
Mit diesen Worten taumelte er rücklings nieder und war vom 
Schlaf bald überwältigt. Unruhig warf er sich umher, und nur zuweilen 
trieb der Rausch ihn vom Lager auf, bis er endlich durch ein viehisches 
Schnarchen seine gänzliche Ertötung kundgab. Jetzt war die Stunde 
gekommen. Ich zog hurtig den Pfahl hervor, steckte den Stachel ins 
Feuer und drehte ihn so lange um, bis er glühend und knisternd Funken 
sprühte. Nun ermahnte ich meine Gefährten mir herzhaft beizustehen 
und nicht zaghaft zurückzuspringen. Ein Gott hauchte uns Mut in die 
Seele. Wir faßten alle an, und in einem Nu bohrten wir den sen¬ 
genden Pfahl ins Auge des Schlafenden. Wie wenn der Schmied ein 
glühendes Eisen plötzlich in kaltes Wasser stößt, um es abzukühlen, so 
zischte das große Auge des Cyklopen, als der Kienbrand hineinfuhr. 
Wir aber drückten immer tiefer und drehten, wie man einen Bohrer 
ins Holz dreht, daß rings das siedendheiße Blut hervorquoll und über 
Stirn und Wangen herabfloß. Die Wurzeln des Auges prasselten, 
und die großen Augenbrauen wurden von der Hitze schnell versengt. 
Der Riese stürzte mit entsetzlichem Geschrei empor, und sogleich flogen 
wir nach allen Seiten aus einander in die Winkel der Höhle. Er 
riß, betäubt von dem höllischen Schmerze, den blutigen Brand aus dem 
Auge, schleuderte ihn wütend gegen die Felsenwand und tobte wie ein 
Wahnsinniger. Von seinem rasenden Gebrüll erwachten die andern 
Cyklopen in der Nachbarschaft. Sie kamen herbeigelaufen und standen 
draußen rings um die Höhle. Was geschah dir für Leid, Polyphem, 
riefen sie herein, daß du so entsetzlich durch die Höhle brüllest? Du 
hast uns alle vom Schlummer erweckt. Hat dir jemand dein Vieh ge¬ 
stohlen? Oder überfüllt dich gar ein Mörder mit Arglist oder gewaltsam? 
— Wehe! schrie der Cyklop, Niemand tötet mich, Niemand thut es mit 
Arglist! — Nun, wenn dir keiner Gewalt anthut, antworteten die andern 
Cyklopen, so sind wir hier unnütz. Gegen innere Schmerzen und Krank¬ 
heiten haben wir kein Mittel. Darum mußt du den Meerbeherrscher 
Poseidon, deinen Vater, anflehen. So sprachen sie und entfernten 
sich eilig. 
Wie lachte mir das Herz vor Freude, daß mein schlau ersonnener 
Name sie getäuscht hatte. Aber noch hatte ich die größte Gefahr nicht 
überstanden. In den Winkeln der Höhle entwischten wir dem blinden
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.