Full text: [Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband]] (Abteilung 1 = Sexta, [Schülerband])

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A. Erzählende Prosa. IV. Sagen, d) Griechische Sagen. 
wir aßen und tranken, und der alte Mut kehrte wieder. Ein süßer 
Schlaf erquickte uns am Gestade, und als die Morgenröte uns weckte, 
beschlossen wir, auf Kundschaft auszugehen, ob vielleicht gastfreundliche 
Menschen die Insel bewohnten. 
Ringsum war nichts zu sehen als öde Steppen und düsterschwarze 
Waldung. Aber mitten aus dem Dickicht wölkte ein starker Rauch sich 
empor. Dahin müssen wir gehen, rief ich; doch wer geht voran? Die 
Gefährten traten alle scheu zurück; sie dachten noch mit Schrecken an 
den Cyklopen und an die Lästrygonen und fürchteten hier ein ähn¬ 
liches Schicksal. Wohlan, sprach ich, teilt euch in zwei Haufen, den 
einen will ich anführen, den andern übergebe ich dem Eurylochus. 
Nun wollen wir losen. Diejenige Hälfte, deren Anführer das Los 
bestimmt, soll die mißliche Wanderung unternehmen. Sie teilten sich 
unmutsvoll; auf jeder Seite standen zweiundzwanzig. Eurylochus und 
ich warfen zwei Lose in einen Helm. Der Helm ward geschüttelt, und 
sieh, des Eurylochus Los sprang zuerst heraus. Er machte sich darauf 
mit den Seinigen zögernd auf den Weg. Die armen Menschen weinten 
bitterlich, als sie von uns andern am Ufer Abschied nahmen; ich suchte 
sie wohl zu trösten, allein ich bedurfte selbst des Trostes, und mir 
ahnte nichts Gutes. 
Der Rauch, den wir gesehen hatten, war aus der stattlichen 
Wohnung der Circe aufgestiegen, einer heillosen Zauberin, gewandt in 
allerlei bösen Künsten, womit sie den Menschen schaden konnte. Sie 
besaß das Geheimnis Kräuter zu kochen, deren Genuß den Menschen 
sogleich in eine Tiergestalt verwandelte, welche ihr gerade beliebte, und 
schon wandelte in dem Parke, der ihre Wohnung umgab, eine ganze 
Menagerie von ausländischen Tieren — lauter Unglückliche, die ein 
Sturm oder Schiffbruch an die Küste verschlagen hatte und denen statt 
freundlicher Aufnahme ein trauriges Los zu teil geworden war. Aber 
der verständige Menschensinn war ihnen nicht genommen worden; daher 
schlichen alle die Löwen und Wölfe ganz friedlich umher, und, nur von 
außen schrecklich anzusehen, härmten sie sich innen die fühlende Seele 
in schwerem Kummer ab. Das wußten meine Gefährten nicht und 
staunten daher die sanftmütigen Tiere an, die gleich freundlich wedeln¬ 
den Hunden auf sie zukamen, als wollten sie dieselben bitten, sich von 
diesem gefährlichen Orte zu entfernen. Ach, daß sie doch die stumme 
Bitte verstanden hätten! Aber so gingen sie unwissend ihrem Ver¬ 
derben entgegen. 
Sie kamen an den Palast, in welchem die Göttin wohnte. Eben 
saß sie daheim und webte sich ein köstliches Gewand und sang mit 
heller, melodischer Stimme ein fröhliches Liedchen zur Arbeit. Horch! 
den herrlichen Gesang! sprach einer der Freunde, laßt uns hineingehen! 
Und sie ließen laut rufend ihre Stimme erschallen, damit jemand 
herauskäme. Die Göttin, welche drinnen den Ruf der Männer ver¬ 
nahm, stand von ihrer Arbeit auf und öffnete die Pforte. Tretet 
herein, ihr Fremdlinge, sagte sie schmeichelnd, daß ich euch bewirte. 
Die Freunde gehorchten und gingen in das Haus; nur der besonnene
	        
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