V. Geschichte.
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aber auch tiefer und inniger. Immerhin können wir aber auch hier von
unseren Nachbarn lernen. Ohne Zweifel ist es nicht durchaus unbedenklich
für gute Freundschaft, wenn die Natürlichkeit ganz bieder dem Freunde ge—
legentlich auf die Füße tritt; einige gebildete Rücksicht kann der aufrichtigsten
Kameradschaft niemals schaden, sondern nur nützen. Das innigste Ver—
hältnis, z. B. das der Ehegatten oder Geschwister, braucht an Wärme und
Aufrichtigkeit durchaus nicht zu verlieren, wenn die Menschen sich eine ge—
wisse freundliche Höflichkeit zur Pflicht machen; im Gegenteil, das Ver—
hältnis wird dadurch an Festigkein und allseiligem Behagen nur gewinnen.
Aus derselben Wurzel entspringt das allgemeine Streben nach Anerkennung
äußerer Ehrenhaftigkeit bei den Franzofen aller Klassen; der ärmste und
niedrigste sucht seiner Haltung die von der Gesellschaft geforderte äußere
Form zu geben.
Ahnliche Bemerkungen wie bei den Menschen kann man bei den Büchern
machen. Der Deutsche sieht vor allem auf den inneren Gehalt und läßt
sich, wo er diesen findet, auch eine unvollkommene Form, etwas Unklarheit
in der Darstellung oder Unbeholfenheit in der Sprache, leicht gefallen. Der
Franzose zieht freilich auch ein tüchtiges Buch einem elenden vor; aber er
legt selbst das tüchtigste sofort auf die Seite, wenn die Form desselben
den einmal feststehenden Anforderungen nicht entspricht. Damit hängt eine
andere Erscheinung nahe zusammen: in Deutschland schreibt jeder bedeutende
Schriftsteller in eigentümlich persönlicher Weise, so daß ein etwas kundiger
Leser ihn gleich auf den ersten Seiten erkennen wird, auch wenn er den
Namen auf dem Titelblatt nicht angesehen hat. In Frankreich ist dies nur
bei sehr wenigen Schriftstellern der Fall; die große Mehrzahl schreibt einer
wie der andere, und das Publikum will es so; es gibt nur eine einzige
gute Ausdrucksweise; was anders ist, gilt für schlecht. Auch in dieser Be—
giehung können die beiden Völker sich gegenseitig mitteilen. In Deutsch—
land ist Gründlichkeit des Inhalts, in Frankreich gebildete Form verbreiteter.
Unsere allgemeine Richtung auf Gründlichkeit des Inhalts hat die Festig—
keit und Selbständigkeit des Urteils in den weitesten Kreisen großgezogen;
in Frankreich dagegen, wo die angenehme Form ganz unwiderstehlichen Reiz
ausübt, selbst wenn sie leer und hohl ist, hat die Phrase, die Redensart,
tine geradezu verhängnisvolle Macht gewonnen. Wer es sonst noch nicht
beobachte hatte, konnte es vor und während dem Kriege jeden Tag wahr—
nehmen. Die handgreiflichsten Lügen wurden geglaubt, wenn sie nur in
länzender Redewendung dem Volke vorgetragen wurden. Die verderblichsten
Veschlüsse wurden im Jubel gefaßt, wenn der Antrag durch ein prunkendes
Shlagwort unterstützt war. Kaum war die Lügenhafligteit des gestrigen
Verichles entdeckt, so wurde der heutige ebenso unwahre und ebenso pomp—
hafte mit gleicher Bereitwilligkeit angenommen. Durch nicht minder glänzende
Dtstelungen haben die Franzosen sich seitdem überzeugen lassen, daß Deutsch—
and den Krieg angefangen und nur mit roher Rechtsverletzung das Elsaß zu⸗
kückgewonnen hat; es ist wieder die inhaltslose, aber wohlklingende Redensart,