V. Geschichte.
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„In meinen Staaten kann jeder nach seiner Fasson selig werden“, entwickelte
sich gerade durch die Freiheit ein warmes religiöses Leben in den mannig⸗
faltigsten Formen und zugleich ein friedliches Nebeneinander der verschiedenen
Bekenntnisse. Als 1815 nach dem Stuͤrze Napoleons J. die katholische
Geistlichkeit wieder großen Einfluß errang, trachtete sie auf der Stelle, auch
die alte Alleinherrschaft zurückzugewinnen Freilich hatte sie nicht mehr das
Recht, die Ketzer mit peinlichen Strafen heimzusuchen; dafür aber bemäch—
tigte sie sich des gesamten Volksunterrichts und suchte mit allen Mitteln,
politische Macht über die Staatsregierung zu erlangen. Um für diesen
Zweck einen starken auswärtigen Rückhalt zu haben, schloß sie sich auf das
engste an den päpstlichen Stuhl in Rom an und warf freiwillig die alten
Rechte der französischen Nationalkirche hinweg. Wie vor zweihundert Jahren
die persönliche Religionsfreiheit, so suchte sie jetzt die nationale Selbständigkeit
zu brechen. Die Folge war wieder, daß alle liberal und national Gesinnten
der Kirche und der von dieser Kirche verkündeten Religion nicht bloß mit
Gleichgültigkeit, sondern mit bitterem Hasse den Rücken kehrten. Wie weit
dieser Haß herangewachsen, haben wir im Jahre 1871 mit Entsetzen gesehen,
wo die Pariser Kommune die Kirchen entweihte und plünderte, den Erz—
bischof und eine Menge von Priestern und Mönchen erschießen ließ. Es
war die greuelvolle Antwort auf den von Rom aus verkündigten Satz,
daß die Kirche befugt sei, mit äußerem Zwange gegen Ketzerei und Unglauben
nzuschreiten. Aber man muß noch mehr sagen. Auch wo es nicht zu
Revolutionen und blutigem Bürgerkriege kommt, ist es für den ruhigen
Zustand eines Landes das größte Unheil, wenn sein religiöses Leben erfüllt
wird von priesterlicher Herrschsucht auf der einen Seite und von religions⸗
feindlichem Unglauben auf der anderen. Bisher ist es noch keinem Volke
selungen, seine sittliche Gesundheit ohne warme und lebendige Religiosität
zu bewahren; es ist also eine Frage von höchster Wichtigkeit, daß die Kirche
hren Einfluß nicht mißbraucht und überspannt und dadurch alle freiheit—
liebenden und lebenskräftigen Bestandteile des Volkes der Religion ent—
sremdet. Wenn in Deutschland, wie wir annehmen dürfen, der Stand der
Sittlichkeit im ganzen und großen reiner und fester als in Frankreich ist,
verdanken wir dies hauptsächlich der Vielheit der bei uns bestehenden
Nirchen und der größeren Selbständigkeit der persönlichen Religiosität, wo
ann so furchtbare Gegensätze wie in Frankreich gar nicht erscheinen konnten.
Man nennt ultramontan diejenige Partei in der katholischen Kirche, welche,
nit Glaubenslehre und Seelsorge nicht zufrieden, nach förmlicher Beherrschung
Staates und der Wissenschaft durch die kirchlichen Behörden strebt; in
iesem Sinne ist seit 1815 die französische Kirche beinahe vollständig ultra—
lun geworden, und gerade dadurch hat Religionshaß und in dessen
elle ungebundene Sitte in weiten Kreisen um sich gegriffen. Wenn Deutsch—
Sehnsucht hätte, Pariser Zustände auf seinenn Boden erwachsen zu
hen so brauchte es nur sein kirchliches Leben nach den Grundsätzen der
anzösischen Kirche einzurichten: unbedingte Unterwerfung der Laien unter