Full text: Prosa für das Seminar (Teil 2, [Schülerband])

III. Deutsche Sprache und Literatur 
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III. Deutsche Sprache und Literatur. 
16. Bunderbare Drohungen. 
Von H. Schrader. 
„Aus dem Wundergarten der deutschen Sprache.“ Weimar 1896. 
Man legte mir unlängst den im Volke weit verbreiteten Ausspruch vor: 
„Wer Wein in ein noch nicht völlig geleertes Glas gießt, bekommt Rheuma— 
tismus“, und fragte, welcher Zusammenhang zwischen dem vorzeitigen Ein— 
schenken und dem Rheumatismus sei; man schien zu erwarten, ich solle den 
nachteiligen Einfluß solches Tuns auf die Gesundheit nachweisen. Als ich 
jeden Zusammenhang leugnete, hieß es, dann müsse man sich an einen Arzt 
wenden; der müsse es doch wissen. — Es ist ja richtig: irgend einer Er— 
klärung bedarf das sonderbare Wort; freilich, bei der ärztlichen Wissenschaft 
möchte sie nicht zu finden sein, vielleicht aber bei der philosophischen. — 
Für mich ward jene Frage zum Anlaß, mich auf ähnliche Redensarten 
zu besinnen und dann von deren Gesamtheit aus eine Deutung zu finden. 
Hier sind solche: „Wenn du mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf etwas 
z. B. auf einen Stern) hinweisest, so erstichst du einen Engel.“ — „Wenn 
du das Brot so auf den Tisch legst, daß die untere Seite nach oben gekehrt 
ist. oder wenn du Salz verschüttest, so verursachst du Zank im Hause.“ — 
„Das junge Mädchen, das bei Tische singt, kriegt einen Trunkenbold zum 
Mann.“ — „Der junge Mann, der bei Tische pfeift, kriegt eine bucklige 
Frau.“ — „Der oder die Unverheiratete, welche ein frisches Stück Butter 
anschneidet, muß noch sieben Jahre bis zur Verheiratung warten.“ — „Wenn 
du dir eine Zigarre an der brennenden Lampe anzündest, kriegst du eine 
schmutzige Frau.“ — ‚Lege bei Tisch dein Messer nicht so, daß die Schneide 
nach oben gerichtet ist, sonst werden die Engel, die unsichtbar durch das 
Zimmer schweben, sich in die Füße schneiden.“ 
Nun meine Ansicht über jene Redensarten. Ich halte natürlich daran 
fest, daß schlechterdings kein Zusammenhang zwischen jenem Tun uͤnd der 
Drohung besteht. Wein in ein nicht ausgetrunkenes Glas gießen, hat mit 
Rheumatismus nichts zu tun, ebensowenig eine nach oben gerichtete Messer— 
schneide mit Engelverwundung, Butteranschneiden mit langer Heiratswarte— 
zeit usv. Wer Ursachen und Wirkungen zusammenbringt, wo keine sind, 
ist abergläubisch. Dessen wollen wir uns nicht schuldig machen. Ich finde 
die Erklärung auf ganz anderem Gebiete und zwar in einem schönen Zuge 
deutscher Denkungsart. Es muß gesagt und immer wieder gesagt werden 
weil wir es kaum glauben wollen), daß die Deutschen ein Volk voll 
blühender Phantasie und Freunde von harmlosem, neckischem Humor sind. 
Wie sich das tausendfach in der Sprache des täglichen Lebens offenbart, 
so auch auf diesem unserem kleinen Gebiete. Der Deutsche hat im Sinn 
zu sagen: Bei Tisch singen oder pfeifen ist unschicklich. Die Messerschneide
	        
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