Full text: Für die Oberstufe der Lehrerseminare sowie zur Fortbildung für Lehrer (Band 4, [Schülerband])

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Deutung und Vollziehung. Hardenberg ins Ministerium zurückzurufen, erlaubte das Verbot 
des Siegers nicht; die Anhänger der kleinmüthigen Friedenspolitik wollte der König selbst 
nicht mehr, oder sie suchten, wie Schulenburg, Dienst im Rheinbunde bei dem neuen König 
Hieronymus Bonaparte. In allen Besseren lebte das Bewußtsein, daß nur ein Mann jetzt 
helfen könne — Stein. Napoleon selbst kannte ihn noch nicht so genau, um ihn zu fürchten; 
„nehmt den Herrn von Stein, das ist ein geistreicher Mann“, soll er, um die Wahl befragt, 
beifaällig erwiedert haben. Der König setzte keinen Widerstand entgegen. Wenige Wochen 
nach dem abgeschlossenen Frieden erhielt Stein zu Nassau die dringendsten Schreiben von der 
Prinzessin Luise, von Hardenberg, von Blücher; sie alle forderten ihn auf, die erlittene Unbill 
zu vergessen und die Hilfe nicht zu versagen in dieser Noth des Vaterlandes, dieser Verlassen— 
heit des Königs. Stein schwankte keinen Augenblick; obwohl ihn unter dem Eindrucke des 
Tilsiter Friedens ein Fieber ans Krankenbett fesselte, raffte er sich auf, gehoben und ermuthigt 
durch den Gedanken, mit frischer Kraft und befreit von dem alten Widerstande längst Ent— 
worfenes vollenden und dem Staate die Kraft wiedergeben zu können, an der jetzt die Meisten, 
selbst unter den Besseren viele, verzweifeln wollten. Am 30. September traf er in Memel 
ein. An seinen Wiedereintritt in das öffentliche Leben knüpft sich eine neue Epoche unserer 
deutschen Entwickelung. 
Seit mehr als zwanzig Jahren in verschiedenen Geschäften, als diplomatischer Unter— 
händler, Verwaltungsbeamter und Minister gebraucht und in jeder dieser Stellungen bewährt, 
brachte Stein die glückliche Verbindung von Theorie und Praxis, jene Harmonie reicher Geistes— 
bildung und Geschäftserfahrenheit mit, die sich in unserem Staatsleben so selten zusammen— 
findet. In einer Zeit, wo nur zu häufig die geistlose, mechanische Routine mit der experimen— 
tierenden Unerfahrenheit um die Herrschaft stritt, war es an sich schon ein Ereigniß, einen 
Mann an der Spitze zu sehen, der Ideen und Ideale besaß, ohne doch der Praxis fremd zu 
sein, dessen Genialilät ihn nicht hinderte, die vorhandenen menschlichen Dinge und Bedürfnisse 
aus ihrer Wirklichkeit im Leben zu erkennen und darnach zu handeln. Aber es trat mit ihm 
zugleich eine Persoönlichkeit in den Vordergrund, an deren Beispiel sich die ganze Nation auf— 
richten und erbauen konnte. 
Es wohnte in diesem Manne ein schlichter, gerader Sinn, den keine Selbstsucht und 
keine Sophistik irrte, eine scharfe durchdringende Einsicht, ein warmes, begeistertes Herz für alles 
Edle und Große und eine durch die Probe furchtbarer Zeiten gestählte Kraft des Charakters. 
Der Leib, in welchem diese Feuerseele wohnte, war nach der Schilderung seines Biographen 
von mittlerer Größe, untersetzter, stämmiger Gestalt, starken Gliedern, breiter Brust und 
Schultern und hat im Laufe eines langen, heftig bewegten Lebens seine zähe, ausdauernde 
Kraft bewährt. Aus der breiten, gewölbten Stirn und der mächtigen Nase, den starken Kinn— 
backen und dem festgeschlossenen Munde sprach der scharfe, durchdringende und umfassende 
Geist und die mächtige Willenskraft; rasch und bestimmt wie sein ganzes Sein, war seine 
Bewegung, seine Rede kurz und entschieden, wie er sie auch bei anderen liebte, sein Gang 
fest und kräftig. 
AIn Stein ist noch einmal das alte Ritterthum des deutschen Reiches zum schönsten 
und kraftvollsten Ausdrucke gekommen. Von altväterischer Art und Strenge, treu seinem 
Glauben und dem frommen, schlichten Sinne früherer Tage, trug er noch ganz den stolzen, 
ungebeugten Freiheitssinn eines Rittersmannes alter Zeit in sich und war voll Eifersucht 
gegen jeden Versuch, der das selbständige Dasein auf dem eigenen freien Boden zu beschränken 
krachtete. Der neuen Fürstensouveränität war er so wenig geneigt, wie die tapferen Reichs— 
ritter im sechzehnten Jahrhundert es der neu aufstrebenden Landeshoheit waren; dagegen 
that er es an hochherzigem Gemeinsinn und lebendigem Gefühle für deutsche Ehre und Unab— 
hängigkeit den Fürstengeschlechtern dieser Tage weit zuvor. Nicht in dem müßigen Vorrecht 
einer Kaste sah er die Prärogative des Adels, sondern in dem Berufe, die Besten und Tüchtigsten 
zu sein in der Natio. 
Was uns in Deutschland seit lange gefehlt, war nicht das Wissen, die reiche Bildung, 
die Vielseitigkeit der Ideen; das alles hatlen wir in Fülle, aber es mangelten uns Charaktere.
	        
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