Goethe als Dramatiker
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der Dichter in der Vaterstadt verbrachte, als er sich, dem gewaltig heischen⸗—
den Triebe seiner freiheitdürstenden Natur folgend, aus den goldenen
Banden losriß und ungewiß in die Zukunft hinausschaute, seinem Sterne
vertrauend.
Damals schuf er sich in Egmont den Helden nach seinem Herzen. Er
entlehnte sich die äußeren Schicksale von dem historischen Egmont und
gestaltete im übrigen den Charakter frei aus. Wieder ist es eine von
den willensschwachen Naturen wie Weislingen und Clavigo; aber dies—
mal umstrahlt von der glänzendsten CLiebenswürdigkeit, von edlem Sinn,
persönlichem Mut und vertrauensseliger Heiterkeit, mit der er dem Nacht⸗
wandler gleich sicher dahinschreitet, während er mit jedem Schritte dem
Absturz näher kommt, der ihn ins tödliche Verderben reißen muß.
Egmont ist ein genußfroher Mensch, der gar wenig vom tragischen
Helden in sich hat. Und dieses Wenige haben ihm gewiß erst die späteren
Anderungen des Dichters verliehen, der in Rom nach mannigfachen
Ansätzen die Arbeit endlich im Juli 1787 zu Ende führte. Heldenhaft
ist dagegen das Bürgermädchen, das Egmont liebt, die kraftvollere
Schwester Gretchens, so bescheiden und so herzhaft, so innig und so keck,
so mädchenhaft und so stolz im Bewußtsein ihrer Liebe wie keine zweite in
unserer ganzen Dichtung. Um dieser beiden wundervollen Menschenbilder
willen, deren Verkörperung zu den höchsten und dankbarsten Aufgaben
der Schauspielkunst zählt, gehört der „Egmont“ zu den Werken, die
uns in unserer dramatischen Literatur am teuersten sind. Neben ihnen
steht eine Reihe anderer, von echtem Leben erfüllter Gestalten: der
überlegene, männlich ernste Oranien, Brackenburg, der still entsagende,
aber keineswegs kraftlose Freund Klärchens, die prächtige Margarete
von Parma, die leider so häufig bei den Aufführungen gestrichen wird,
der hohläugige Toledaner Alba, der spitzbübische Vansen und die Cha—
rakterköpfe aus dem Volke, jeder ein ganzer Mensch, klar geschaut und
fest hingestellt. Mag man immerhin diese Niederländer ein wenig zu
pießbürgerlich finden, mag man in den Volksszenen eine starke An—
lehnung an die verächtliche Schilderung der Masse in Shakespeares „Julius
Cäsar⸗ entdecken, — der starke Lebensgehalt, die Frische der Zeichnung
tragen über alle Bedenken den Sieg davon.
Schwieriger ist es, sich mit den technischen Mängeln des Dramas
auszusöhnen. Daß der Held erst in der Mitte des zweiten Aktes vor
uns erscheint, ist ein für die Wirkung gefährlicher Umstand, der aber
verhältnismäßig leicht durch die Schillersche Bearbeitung, die sich noch
letzt fast überall behauptet, zu beseitigen scheint. Bedenklicher erscheint
es, daß bis zum vierten Akt nur Zustandsschilderung geboten wird und
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