Full text: Deutsche Dichtung des 18. Jahrhunderts (Band 2, [Schülerband])

Haller, Kleist und Klopstock als „sentimentalische Dichter“ 
herausführt, immer nur den Geist unter die Waffen ruft, ohne den 
Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu erquicken. Reusch, 
überirdisch, unkörperlich, heilig wie seine Religion ist seine dichterische 
Muse, und man muß mit Bewunderung gestehen, daß er, wiewohl zu— 
weilen in diesen Höhen verirret, doch niemals davon herabgesunken ist. 
Ich bekenne daher unverhohlen, daß mir für den Kopf desjenigen etwas 
bange ist, der wirklich und ohne Affektation diesen Dichter zu seinem 
Cieblingsbuche machen kann, zu einem Buche nämlich, bei dem man 
zu jeder Lage sich stimmen, zu dem man aus jeder CLage zurückkehren 
kann; auch, dächte ich, hätte man in Deutschland Früchte genug von 
seiner gefährlichen Herrschaft gesehen. Nur in gewissen exaltierten Stim⸗ 
mungen des Gemüts kann er gesucht und empfunden werden; deswegen 
ist er auch der Abgott der Jugend, obgleich bei weitem nicht ihre glück— 
lichste Wahl. Die Jugend, die immer über das Leben hinausstrebt, die 
alle Form fliehet und jede Grenze zu enge findet, ergeht sich mit Liebe 
und Lust in den endlosen Räumen, die ihr von diesem Dichter aufgetan 
werden. Wenn dann der Jüngling Mann wird und aus dem Reiche 
der Ideen in die Grenzen der Erfahrung zurückkehrt, so verliert sich vieles, 
sehr vieles von jener enthusiastischen Liebe, aber nichts von der Achtung, 
die man einer so einzigen Erscheinung, einem so außerordentlichen Genius, 
einem so veredelten Gefühl, die der Deutsche besonders einem so hohen 
Verdienste schuldig ist. 
Ich nannte diesen Dichter vorzugsweise in der elegischen Gattung 
groß, und kaum wird es nötig sein, dieses Urteil noch besonders zu recht⸗ 
fertigen. Fähig zu jeder Energie und Meister auf dem ganzen Felde senti— 
mentalischer Dichtung, kann er uns bald durch das höchste Pathos er— 
schüttern, bald in himmlisch süße Empfindungen wiegen; aber zu einer 
hohen geistreichen Wehmut neigt sich doch überwiegend sein Herz; und 
wie erhaben auch seine Harfe, seine Cyra tönt, so werden die schmelzenden 
Töne seiner Laute doch immer wahrer und tiefer und beweglicher klingen. 
Ich berufe mich auf jedes reingestimmte Gefühl, ob es nicht alles Kühne 
und Starke, alle Fiktionen, alle prachtvollen Beschreibungen, alle Muster 
oratorischer Beredsamkeit im Messias, alle schimmernden Gleichnisse, 
worin unser Dichter so vorzüglich glücklich ist, für die zarten Empfindungen 
hingeben würde, welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Ge— 
dicht Bardale, den frühen Gräbern, der Sommernacht, dem Züricher 
S5ee und mehrern andern aus dieser Gattung atmen. So ist mir die 
Messiade als ein Schatz elegischer— Gefühle und idealischer Schilderungen 
teuer, wie wenig sie mich auch als Darstellung einer Handlung und als 
ein episches Werk befriedigt. 
Aus der Abhandlung „über naive und sentimentale Dichtung“ 
vil 
Aer.
	        
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