Full text: Poesie für das Seminar (Teil 3, [Schülerband])

I. Altdeutsche Dichtung. B. Unsere christl. Ahnen, c. Althochd. 
Denkmäler. 19 
Hell dir, die aus der Frauenwelt 
Als liebste sich der Herr gewählt! 
In deinem Herzen bange nicht, 
Auf deinem holden Angesicht 
Verändre nimmer du die Färb'; 
Du bist erfüllt von Gottes Geist. 
Es fang von deiner Heiligkeit 
Schon der Propheten große Zahl, 
Auf dich schon haben alle Welt 
Gewiesen sie in alter Zeit. 
Du schimmernd weißer Edelstein, 
Du sonnenklare Gottesmagd, 
Der Mütter allerteuerste 
Sollst werden du der Welt allein. 
Du sollst gebären einen Sohn, 
Der leitet mit gewalt'gem Arm 
Die Erd' und auch das Himmelreich 
Und jede Erdenkreatur, 
Den Schöpfer dieses Erdenrundes: 
Das ist, was mir der Herr gebot. 
Du sollst gebär'n des Vaters Sohn, 
Der gleich ihm ist von Ewigkeit. 
Die Weihe gibt ihm Gott der Herr 
Und Ehre auch in hohem Maß, 
Des sei du sicher und gewiß. 
Du Sprößling, du von Davids Haus. 
Ja, er regiert mit hoher Macht 
Als König alles Judenvolks, 
Und dieses steht in Gottes Schutz 
Bis an der Erde Untergang. 
Das Leben wird er aller Welt 
In seiner Gnade dann verleihn 
Und öffnen auch das Himmelreich 
Jedwedem, der tue Erd' bewohnt." 
Die herrlich schöne Jungfrau sprach 
Zu Gottes heil'gem Boten draus, 
Sie gab ihn: deutlichen Bescheid 
Mit Mienen, voll von Süßigkeit: 
„Wodurch geschah's, o du mein Herr, 
Daß ich es würdig wäre nur, 
Daß ich des Höchsten eignen Sohn 
Ernähren dürft' an meiner Brust? 
Wie könnt auch je erfüllen sich, 
Daß unterm Herz ein Kind ich trüg', 
Da niemals noch an Manneslieb' 
Gedanken kamen mir ins Herz? 
>^ch hab' mir vorgenommen je, 
Beschlossen ist's in meinem Sinn, 
Daß ich allein als Jungfrau stets 
Verlebe meine Lebensfrist." 
Derselbe Gottesbote drauf, 
Er sprach zu ihr mit klarem Wort 
Die Botschaft überraschend sehr 
Und auch gar sehr geheimnisvoll: 
„Ich bin zu sagen dir gesandt, 
O Frau, ein Ding geheimnisvoll: 
Mit deiner Seel' ist Seligkeit 
Für jetzt und alle Ewigkeit. 
Ich melde dir auch dieses noch, 
Daß eben dieses Kindlein dein 
Geheißen wird in schöner Weis' 
Des ew'gen Gottes heil'ger Sohn. 
Errichtet ist sein Herrschersitz 
Hoch über diesem Erdenraum. 
Kein König ist in dieser Welt, 
Er sei denn diesem untertan. 
Und auch kein Kaiser lebt bei uns, 
Der keine Gabe brächte ihm, 
Der nieder nicht zu Füßen fiel 
Und ehrte ihn, wie sich's gebührt. 
Er wird jedweden, der ihn liebt, 
Beschirmen stets mit aller Kraft, 
Der Menschenkinder ält'sten Feind, 
Gefangen nehmen wird er ihn. 
Kein Winkel ist aus dieser Welt, 
Wohin er ihm entweichen kann, 
Kein Platz ist unterm Himmelszelt, 
Wo er zu retten sich vermag. 
Im Meere selbst ereilt ihn Weh, 
Versucht er es, dahin zu flieh«. 
Zur Fremde hat er ihm gemacht 
Das hocherhabne Himmelreich, 
Da er verurteilt ist schon längst 
Und über ihn beschlossen ist. 
Daß er in tiefem Höllenschlund 
In Ketten ganz vernichtet liegt. 
Auch eine deiner Basen, sieh, 
Hat noch kein Kind zur Welt gebracht, 
Und schon hat sie gar manche Zeit 
Auf dieser Erde hier verlebt. 
Nun aber hat empfangen sie 
Ein Kind von solcher Heiligkeit, 
Dergleichen seit Beginn der Welt 
Noch nie ein Weib empfangen hat. 
Nichts ist, tvas nicht geschehen kann, 
Wenn nur der Herr es wirklich will,
	        
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