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Gustav Freytag
machen, so hat Freytag stets klar gezeigt, wie jeder, auch der größte, mit
seinem Volk und mit seinem Zeitalter zusammenhängt, und er hat zugleich
über dem Studium der Niederungen und Durchschnittszustände, des Han¬
dels und Wandels nie der Höhen, der individuellen Mächte, der gebie¬
tenden Männer vergessen. Sein Luther, sein Friedrich der Große sind
bei etwas weicher Pinselführung Meisterstücke des historischen Porträts.
Freytag hat aus allen Quellen geschöpft und gar vieles nicht den großen
Urkunden, sondern der versteckten Kleinliteratur abfragen müssen, von
der er selbst einen reichen Schatz besaß. Gr führt uns in die fallen der
Fürsten, in die Burgen und Schlösser des Adels, in eine Stadt des vier¬
zehnten Jahrhunderts, in Rüche und Reller, in die Zunftstube, zum Turnier
tz.der Freischießen, in die Dome, die Rirchlein und in die Dämmerung des
Aberglaubens, unter all das fahrende Volk, zu den Rippern und Wippern,
den frummen Landsknechten, den Alamodegecken, vor der Roheit nicht
ausbiegend, aber nicht (wie gemeine Spekulanten tun) ihr nachtrachtend.
Gr kennt alle Waffen und Geräte, Rleidung und Schmuck, den Stil jeden
Zeitalters und Standes, nur gegen süddeutsche Art manchmal zu ver¬
schlossen; er weiß, wie das Liebesbekenntnis sich wandelte, was jeweilig
unsern Vorfahren die höfische Zucht, die Galanterie, die Ronduite gebot,
welche Anrede, ja, welche kleine Gebärde ziemlich erschien.
Nachdem er so alles deutschen Wesens von den Rriegen des vierten
Jahrhunderts bis zu den innern Kämpfen des neunzehnten, von Ammianus
bis zu seinem Mathy völlig Herr geworden war und er auch meinen
durfte, die eigentlichen Studien weit genug abgestoßen zu haben zugunsten
freier Bewegung, trug er sich seit f867 mit dem Plan eines zyklischen
Romans von unsern „Ahnen", bis ihm 1(870 plötzlich vor Straßburg,
da sein geistiges Auge hinter den lebendigen Heerscharen den Schattenzug
aus der alten Alemannenschlacht gewahrte, die Gestaltung als unab-
weisliche Pflicht erschien. Gr war nach früher Begeisterung für Scott
gern durch die Romanwelt seines lieben Landsmannes Alexis wie
durch eine Ahnengalerie der Mark geschritten und lang gewöhnt, im
Gegenwärtigen vergangenes, im Vergangenen Zukünftiges aufzuspüren:
so kann der Doktor Fritz Hahn die schöne Zlse von Bielstein nicht an¬
schauen, ohne sie zurückzuversetzen in die graue Heidenzeit, ins Balkenhaus
eines christlichen Sachsenhäuptlings, auf die Burg eines Raubritters, ins
stille Iagdschlößchen des siebzehnten Jahrhunderts, immer so anders und
doch dieselbe. Line sechsteilige Symphonie sollte nun nach einem wohl¬
berechneten Schematismus deutsche Seelenwanderungen vorüberführen
und allerdings ihre Motive dem Kreis der „Bilde r" im großen und
kleinen entlehnen, frei erfundene Figuren und Ereignisse mit geschicht¬