Full text: Deutsche Dichtung des 19. und 20. Jahrhunderts (Band 3, [Schülerband])

Das deutsche Rinderlied 
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Er war jederzeit und ist überall: „Der Rinderreim im Oldenburger und 
Bremer Lande und derjenige an der Donau unterscheiden sich oft noch 
weniger als Geschwister, sondern haben eine wahre Zwillingsähnlichkeit. 
Vas Schröer in j?reßburg, Zschischka und Schottky in Deutschböhmen 
und im Erzherzogtum an solchen Sprüchen aufzeichneten, Mannhardt in 
Danzig, das gleicht alles unserem Rinderspruche an der Aare und am 
Jura: aller Unterschied zwischen diesen örtlich sich so entfernt bleibenden 
Rleinigkeiten ist bis in die .Tausende von Sprüchen hinein kein anderer 
als ein mundartlicher. U)ie soll man sich diese märchenhafte Ubiquität 
erklären? Reine Zeit hat sich dieser unscheinbaren Dinge ernstlich ange¬ 
nommen, der Buchdruck hat sie nicht verbreitet, j?lan und Lehre sie nicht 
vorsätzlich jemals vererbt oder gefristet; gleichwohl sind sie aller Orten 
und von jeher!" 
Ich sprach vorher scherzend von einer Wissenschaft der Rinderstube,: 
es gibt aber heute wirklich eine solche und sie hat mit der Sammlung, 
Vergleichung und Stammbaumforschung der Rinderpoesie begonnen, wozu 
Jakob Grimm in seiner „Deutschen Mythologie" den Grund legte. Aus 
dem germanischen Mythus kamen die beliebtesten Märchengestalten. Das 
Dornröschen und sein j)rinz sind Brunhild und Siegfried, in dem Elemente 
des Überall und Nirgends belassen, nur in das sonnige Reich der Rinder¬ 
träume eingerückt, während die Heldensage sie in den Dienst ihrer Tragik 
stellte. Die Frau Holle, die ihre Betten macht, wenn es schneit, ist die 
Göttin Frigg; der Wunschhut des reisenden Handwerksburschen, sein 
Tischlein-deck-dich, das Hinkelbeinchen des treuen Schwesterchens, das 
seinen Bruder aus dem Glasberg erlöst, sind Attribute altgermanischer 
Götter. Aber auch im Rinderliede jst derlei aufbehalten geblieben. In 
dem Neiterliedchen heißt es: 
„Reite, reite, Rößlein, 
Zu Basel steht ein Schlößlein, 
Zu Rom, da steht ein Glockenhaus, 
Da schauen drei schöne Jungsrauen heraus: 
Die eine, die spinnt Seide, 
Die andre wickelt weide, 
Die dritte spinnt das klare Gold, 
Und die ist meinem Rindlein hold." 
Das find aber die drei Bornen, deren nordische Abkunft durch ihr 
Quartier im römischen Glockenhause ebensowenig berührt wird wie durch 
den Namenswechsel, den uns eine andere Variante zeigt, in der sie „die 
drei Mareien" heißen. Ebenso hat man im Neigenspiele von der goldenen 
und faulen Brücke, wie es in allen Gegenden Deutschlands vorkommt, 
eine Reminiszenz an die Totenbrücke erkannt, an welcher der hütende 
Blodhgudhr sitzt und spricht: „Reite durch, der Bruder ist schon voraus!" 
Zn vielen Fällen gewinnen Lieder und Sprüche, die uns auf den 
ersten Blick als Rindergeplapper ohne verstand, als bloße Lippenübungen
	        
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