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Aus: „Die Frau Marchefa".
.Deutsche Rundschau" 187?, Januar, 5.
An der schönen östlichen Küste des Ligurischen Meeres, ziemlich genau in der
Mitte zwischen Genua und La Spezzia, tritt ein steiles Vorgebirge, von herrlichen
Pinien überschattet, in die blaue Seeflut hinaus, das niemand, der vorzeiten diese s
Straße zog, unbesucht ließ. Denn in dem Städtchen, das auf der Landzunge
zwischen den breiten Buchten und weiter in das Tal hinein sich ausgebreitet
hat, von Schiffern und kleinen Leuten bewohnt, hielten regelmäßig die Vetturine
an, die von Süden oder Norden kamen, sei es nur, um ihren Passagieren und
Pferden eine Mittagsruhe zu gönnen, oder um hier für die Nacht Station zu io
machen. Dann stieg der Reisende die gepflasterten Gäßchen zu der Villa des
Marchese Piuma hinan und wandelte durch die langen Gartenwege nach der
Pinienhöhe, um dort unter wildem Gesträuch, Aloe- und Tamariskengestrüpp des
unsäglich schönen Ausblickes auf das Meer zu genießen und dann an dem ehe¬
maligen Kastell und dem Friedhof mit den schwarz und weiß gestreiften Mauern 15
vorbei den Niedersteig nach der andern Seite zu suchen, wo vom Bergabhang
drüben das alte Kapuzinerkloster zwischen Cypressen und Olbäumen traulich herab¬
sieht, unten die wunderliche verödete Kirche am Strande steht, und die rot bemalte
Wand des Hospitals und die weiß getünchten Häuser von Sestri sich in den ruhigen
Wellen spiegeln. 80
Seitdem ein Schienenweg längs dieser berühmten Riviera di Levante hinführt,
mit zahllosen Tunneln, zwischen denen man nur auf kurze Sttecken einen fast
traumhaften Blick auf die vielzerklüfteten Ufer mit weißen Städtchen und grauen
Schlössern zu werfen vermag, ist das Vorgebirge von Sestri verödet und ver¬
schollen. Die hastigen neuen Menschen, die „Italien in fünfzig Tagen" kennen zurs
lernen wünschen, haben kaum für das Zeit, was sie die Hauptpunkte nennen.
Nur solche, die noch aus den guten alten Tagen der Vetturine ein stilles Pinien¬
heimweh nach dieser Küste gerettet haben, überschlagen hier etwa einen Zug, um
die unvergeßlichen Bilder auf einem Rundgang über die sonnigen Höhen wieder
aufzufrischen. Es sind aber nicht so viele, daß der Wirt des ^IberZo ä'Luropu 30
dicht an der flachen, kieselschimmernden Meerküste seine Rechnung dabei fände. Uber
Haus und Hof und Garten breitet das Gespenst des unausbleiblichen Ruins
seine grauen Schleier, dem nur die beiden großen Orangenbäume im Hof neben
dem EingangStor in ihrer lachenden Überfülle an Blüten und Früchten zu trotzen
wagen. zz
Mich hatte, außer meinen Jugenderinnerungen, gerade die tiefe Einsamkeit dieser
Stätten gelockt, da ich vor Jahr und Tag als ein ruhebedürftiger Mensch mich in
den Süden flüchtete. Und doch hatte ich Mühe, ein beklommenes Gefühl zu über¬
winden, als ich den Hof der alten Herberge betrat, der jetzt nicht mehr vom Stampfen
und Wiehern schellenbehangener Kärnerpferde und dem Gewimmel von Vetturinen 10
und Kellnern erscholl. Die Frau Wirttn saß, Artischocken putzend, in Hemd und
geflicktem Unterrock aus den Steinstufen der Tür; der Wirt im schwarzen Tuchrock,
einen Cylinderhut auf dem Kops, die Hände in den Hosentaschen, ging finster
schwatzend und gestikulierend mit einem hageren Geistlichen im Schatten der Mauer
aus und ab; ein hemdärmelicher Bursche, in welchem ich den Herrn Oberkellner, 45
Hausknecht und Küfer nicht sogleich erkannte, lag auf dem Bauch mitten in der
Sonne und ließ die beiden halbnackten Kinder der Frau Wirtin über seinen Rücken
hinweg Purzelbäume schlagen; und hinter dem Eisengitter einer rauchgeschwärzten
Höhle des Erdgeschosses, welche die Küche vorstellte, lehnte eine dicke Figur in vor¬
mals weißer Jacke und Kochmütze und schlief trotz der zahllosen Fliegen, die das so
breite, weinrote Gesicht umschwärmten.
Als ich meine Absicht kundtat, hier ein paar Tage zu bleiben, wurde ich von
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