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der träge Esel gab ihm einen Schlag mit seinem Huse. Das edle
Pferd allein stand dabei und tat ihm nichts, obgleich der Löwe seine
Mutter zerrissen hatte. „Willst du nicht dem Löwen auch eins hin¬
ter die Ohren geben?" fragte der Esel. Das Pferd antwortete:
„Ich halte es für niederträchtig mich an einem Feinde zu rächen,
der mir nicht mehr schaden kann."
94. Der Rabe und die Pfauen.
Nach Äsop.
Ein eitler Rabe sammelte einst ausgefallene Pfauenfedern
und schmückte sich damit. In seinem Hochmute verschmähte er
dann sein eigenes Geschlecht und mischte sich unter die Pfauen.
Als aber diese den schnöden Raben sahen, erzürnten sie, rauften
ihm die fremden Federn aus und kratzten ihn so, daß er für tot
liegen blieb. Nachdem er sich wieder erholt hatte, schämte er sich
zuerst wieder zu seinen Brüdern zu gehen. Endlich kam er
doch in Sorgen zu ihnen. Einer davon sprach zu ihm: ,,Schämst
du dich nicht, daß du dich höher erheben willst, als dir zugehört?
Hättest du das Kleid behalten, das dir die Natur verliehen hat,
so wärest du nicht mißhandelt worden.“ — Jeder begnüge sich
mit seinem Stande!
95. Der Fuchs und die Trauben.
Nach Äsop.
Ein hungriger Fuchs kam einst an einen Weinstock, der voll
süßer Trauben hing. Lange schlich er davor auf und ab, über¬
legend und versuchend, wie er zu den Trauben gelangen könne, aber
umsonst; sie hingen zu hoch. Damit er nun von den Vögeln, die
ihm zugesehen hatten, nicht verspottet würde, wandte er sich mit
verächtlicher Miene weg und sprach: „Die Trauben sind mir zu
sauer; ich mag sie nicht haben."
96. Der Fuchs und der Bock.
Nach Äsop.
Der Fuchs war; in einen Brunnen gefallen. Er bot alle Kraft
und Kunst auf um sich durch Springen zu befreien; aber der Rand
war zu hoch. So saß er wie in einem Gefängnis eingeschlossen.
Zufällig kam ein Bock vorüber. Als er den Fuchs bemerkte, fragte
er spottend: „Wie befindest du dich, guter Freund? Schmeckt das
Wasser?" Der Fuchs stellte sich, als fühle er den Spott nicht, und
antwortete: „Dieses Wasser ist außerordentlich süß. Weit und
breit gibt es keine kostbarere Quelle. Willst du nicht davon kosten?"
Der Bock wurde durch diese Worte wie durch seinen Durst bestimrnt