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schwieriger und unsicherer. Der Führer will die Pumpen spie¬
len lassen ; aber er kann die Hand nicht nach den Griffen aus¬
strecken; denn die nasse Kleidung hat sich in einen starren Eis¬
panzer verwandelt. Bart und Pelz sind in eine Eismasse zu¬
sammengeronnen, die dicke Pelzmütze ist zu einem drückenden
Helme geworden und die an den Augenwimpern hängenden Eis¬
kügelchen lassen die Lichter der auftauchenden zweiten Station
in tausend Farben spielen.
„Station Rodenkirchen ! Zwei Minuten !" — Vorwärts ! Vor¬
wärts! Unablässig weht der Schneesturm, dicker werden die
Eiskrusten der Pelze, müder die erschütterten, durchdröhnten
Glieder. Die Stationen spinnen sich langsam ab, die Entfernun¬
gen scheinen mit der Ermüdung zu wachsen. Unaussprechliche
Schlafsucht beschleicht die Männer; aber sie reißen die müden,
entzündeten Augen auf, entsetzt über die empfundenen, gefähr¬
lichen Anwandlungen, die sich dennoch unwiderstehlich wieder¬
holen. „Gott sei Dank, da ist Hochfeld, die Endstation !" Müh¬
sam hebt der Führer den starren Arm im steifgefrorenen Ärmel
um zu pfeifen, als die Gebäude der großen Station im ungemüt¬
lichen Lichte eines stürmischen Wintermorgens mit all ihrer
Öde und Unbehaglichkeit zum Vorschein kommen.
Dröhnend rollt der Zug mit den letzten Atemzügen der fast
verlöschenden Maschine in die nur spärlich erleuchtete Halle.
Mühsam sich bewegend, starr und kältematt verläßt der alte Zim¬
mermann die Maschine.
Das ist Lokomotivführerdienst im Winter!
157. Das hl. Abendmahl von Leonardo da Vinci (1462—1519).
Joh. Wolfg. v. Goethe.
Tas Aufregungsmittel, wodurch der Künstler die ruhig hei¬
lige Abendtafel erschüttert, find die Worte des Meisters: „Einer ist
unter euch, der mich verrät!" Ausgesprochen sind sie, die ganze
Gesellschaft kommt darüber in Unruhe; er aber neigt sein Haupt
gesenkten Blickes; die ganze Stellung, die Bewegung der Arme, der
Hände, alles wiederholt mit himmlischer Ergebenheit die unglück¬
lichen Worte, die das Schweigen selbst bekräftigt: Ja, es ist nicht
anders! Einer ist unter euch, der mich verrät!
Die Gestalten zu beiden Seiteir des Herrn lassen sich in- drei
und drei zusammen betrachten, wie sie denn auch jedesmal in eins
gedacht, in Verhältnis gestellt und doch in Bezug auf ihre Nach¬
barn gehalten sind.
Zunächst an Christi rechter Seite Johannes, Judas
und Petrus.