Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare

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ist nicht so zufällig, daß das schönste Werk der Ritterpoesie und das populärste 
Reimbuch im Reformationsjahrhunderte Straßburger Stadtschreiber zu Verfassern 
hatten. Als es schien, als wollte Deutschlands Ehre sich beinahe auf seine 
Hochschulen zurückziehen, da entfaltete die Straßburger Universität eine echt 
deutsche Hochblüte, irotzdem die Stadt schon unter französischem Scepter stand. 
Denn die Straßburger Hochschule, zu welcher Kaiser Max II. die Universitäts⸗ 
Bulle geschickt hatte, fand bei der französischen Regierung wiederholt Pflege und 
Förderung. Wie einst Gutenberg nach Straßburg gekommen, um Verständnis 
und Förderung für seine Lebensaufgabe zu finden, so wurden alte und junge 
Leute von dem Rufe der neuen Lehranstalten angezogen, welche man für Natur— 
und Arzneiwissenschaften in Straßburg errichtete. Eine Reihe berühmter deutscher 
Professoren zierte die Elsässer Universität, vor allen Schöpflin, der Vielkundige 
und Viellehrende, — Schilter und Scherz, die mit Schöpflin die deutsche Ver— 
gangenheit voll ernsten Eifers ergründeten, — dann Schöpflins Schüler in der 
Geschichte, Oberlin, Lorenz, Koch, — die Philologen Schweighäuser und Brunch, 
— die Naturforscher Hermann, der Ammeister von Dietrich und noch mehrere 
andere. Wir verdanken dem Elsaß auch einen nationalen Sittenschilderer wie 
Moscherosch, einen Erneuerer des inneren religiösen Lebens wie Spener, und 
einen Dichter voll der kernigen Laune wie Pfeffel. 
Durch seine unvergleichliche Lage an der europäischen Straßenlinie von 
der Seine nach der Donau, von Paris nach Wien und der nicht minder wich⸗ 
tigen nordsüdlichen zwischen Hamburg, Frankfurt, Basel, der Schweiz und dem 
Rhonegebiete, in deren Kreuzungspunkte Straßburg lag, ferner an derjenigen 
Slelle, wo der Strom erst eine ungehinderte Schiffbarkeit gewinnt und durch 
den Einfluß der schiffbaren Ill eine natürliche Verbindung mit den oberhalb 
gelegenen Städten des Elsaß erhält, eignete sich die Stadt zu einem militärischen 
und administrativen wie zu einem merkantilen Centralpunkte für einen umfassen⸗ 
den Bezirk. Daher wurde Straßburg, etwas mehr ostwärts gelegen, als das 
Argentoratum der Römer, eine gewaltige Festung die Hauptstadt des rheinischen 
Schwabens, der große politische und zum Teil auch kirchliche Centralort des 
ganzen elsässischen Landes und ist noch jetzt die Handelsmetropole des ganzen 
Oberrheins. Eine Stadt in solcher Lage mußte auch nach harten Schlägen in 
schlimmen Zeiten sich immer wieder erheben und zu gleich großem Ansehen und 
Glanz emporschwingen. 
141. Kolmar. 
Karl Stieler. 
Morgenstille herrscht ringsum, und die Sonne spielt glitzernd um die wetter⸗ 
graue steinerne Brüstung des Turmes. Wohl eine Stunde saß ich schon droben 
auf dieser Warte, im alten Münster zu Kolmar; es ist so lockend, in blaue 
Weiten hinauszuschauen und in Gedanken zu wandern; es ist so traulich unter 
diesem steinernen Dach, während vom Türmerstüblein der fleißige Hammerschlag 
herüberhallt, und blondlockige Kinder Versteckens spielen in allen Ecken und Nischen. 
Zwischendrein läßt wohl auch ein Taubenpaar sich nieder auf der Schulter 
eines Heiligen und blickt girrend auf den Fremdling, der sich unverhofft hier 
eingenistet; manchmal steigt aus der Tiefe ein verhallender Ruf empor, und neu⸗ 
gierig blickt dann der Schieferdecker, der drüben auf dem Dache klettert, hinab 
in die Straße. 
Sie sind nicht sonderlich prunkvoll, die Straßen von Kolmar, und man 
merkt wohl an ihrer Bauart, wie an der mäßigen Belebtheit, daß stille Tage 
über die Stadt dahingegangen. Die meisten Häuser haben steile Giebel, und
	        
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