Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare

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AN. Da sprach Hildens Tochter: „Gott laß euch selbst gedeihn 
Eure Mäntel beiden! An dem Leibe mein 
Sollen niemands Augen Manneskleider sehen.“ 
Wenn sie sich erkennien, ihnen könnte Liebres nicht geschehen. 
28. Oftmals blickte Herwig die Jungfrau forschend an; 
Sie schien so schön dem Degen und auch so wohlgethan, 
Daß es ihn im Herzen oft zum Seufzen brachte: 
Sie glich so sehr der einen, an die er oft gar inniglich gedachte. 
29. Da sprach von Ortland wieder der König Ortwein: 
Ich frag' euch Mädchen beide, sollt' euch bekannt nicht sein 
Ein fremdes Ingesinde, das kam zu diesem Land? 
Eine war darunter, die wurde Gudrun genannt.“ 
30. „Das hab' ich wohl erfahren,“ sprach die schöne Maid, 
Es kam ein fremd' Gesinde hieher vor langer Zeit: 
Vach starker Heerfahrt brachte man sie zu diesen Reichen. 
Den geraubten Frauen sah man das Antlitz großen Jammer bleichen.“ 
31. Sie sprach: „Die Ihr da suchet, die hab' ich wohl geseh'n 
In großen Mühsalen, das will ich euch gestehn.“ 
Sie war der Mädchen eine, die da Hartmuth brachte: 
da Gudrun war sie selber, daher sie dieser Dinge wohl gedachte. 
32. Da sprach der König Herwig: „Nun seht, Herr Ortewein: 
Sollt' eure Schwester Gudrun noch am Leben sein 
In irgend einem Lande von allen Erdenreichen, 
So schwür' ich, diese wär' es: niemals sah ich ihr ein Weib so gleichen.“ 
358. Da sprach König Ortwein: „Sie ist gar minniglich: 
Jedoch meiner Schwester nich vergleicht sie sich: 
Aus unser beider Jugend gedent wohl der Stunde, 
Da hätte man auf Erden kein so shönes Mägedelein gefunden.“ 
34. Da er ihn also nannte, der kühne junge Mann, 
VNit seinem Namen Ortwein, da sah ihn wieder an 
Gudrun die arme: ob es ihr Bruder wäre, 
Das wüßte sie so gerne: so wücd' erleichtert ihres Herzens Schwere. 
85. Sie sprach: „Wie Ihr auch heißet, Ihr seid untadelig. 
Linem, den ich kannte, gleicht Ihr seltsamlich: 
Er war geheißen Herwig und war von Seelanden: 
Wenn der Held noch lebte, er löst' uns wohl aus diesen strengen Banden. 
36. „Ich bin auch ihrer eine, die mit Hartmuths Heer 
In Sireit gefangen wurden und geführt über Marn 
Ihr suchet Gudrunen: das thut Ihr ohne Not. 
Die Maͤgd von Hegelingen fand dor großem Leid den Tod.“ 
37. Da thränten Ortweinen seine Augen licht; 
Die Kunde ließ auch Herwig unbeweinet nicht. 
Als sie das vernahmen, daß gestorben wäre 
Die Magd von Hegelingen, das belud ihr Herz mit großer Schwere. 
38. Als sie die Helden beide vor sich weinen sah, 
Die geraubte Jungfrau sprach zu ihnen da: 
Ihr gehabt euch also bei diese Trauermäre, 
Als ob die edle Gubrun euch verwandt, ihr guten Helden, wäre.“
	        
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