ihn nicht über. Nachdem er sieben Tage ohne Speise und Trank am Ufer ge—
weint und Klagelieder gesungen hat, kehrt er in die Oberwelt und nach Thrazien
Dort setzt er, fern von dem Geräusche der Menschen, in einsamen Wald⸗—
halern seine Trauerweisen fort. Sie klingen so süß, daß sich die Vögel und
die Tiere aus dem Walde um ihn versammeln, und die Bäume näher an ihn rücken.
So saß er einst am Bacchusfeste auf einem Hügel, als eine Schar bekränzter
Frauen als wilde Bacchantinnen mit fliegenden Haaren an ihm vorüberschwärmte.
Da sitzt der, welcher uns verachtet,“ riefen sie in trunkener Ausgelassenheit.
Sie warfen ihre mit Weinblättern umrankten Thyrsusstäbe und Steine nach ihm.
Anfangs schühten ihn die Klänge seiner Leier, denn es wurden ja auch Steine
von derselben bezaubert. Sie fielen vor ihm zu Boden, ohne ihn zu verletzen.
Doch das Schreien, Toben und die Pauken übertönten bald Orpheus Lied, und
so fiel er endlich entseelt zur Erde. Da klagten die Vögel und die übrigen
Tiere um ihn; die Bäume legten ihren Blätterschmuck nieder, und die Nymphen
des Waldes und der Quellen zerrauften sich das Haar. Sein Haupt und seine
Leier wurden von den noch immer wütenden Frauen in den Fluß geworfen. Die
Wellen trugen beides in das Meer und über dasselbe nach der Insel Lesbos,
wo später des Alkäus und der Sappho liebliche Lieder erklangen. Aber der
Schalten des Orpheus wanderte zum zweitenmale auf bekanntem Wege hinab in
das Totenreich zur geliebten Gatlin, mit welcher er nun ewig vereint blieb.
1. Dãädalus und Ikarus.
Gustav Schwab.
Dädalus aus Athen war der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister,
Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den verschiedensten Gegenden der Welt
wurden Werke seiner Kunst bewundert, und von seinen Bildsäulen sagte man,
sie leben, gehen und sehen, und seien für kein Bild, sondern für ein beseeltes
Geschopf zu halten. Denn während an den Bildsäulen der früheren Meister
die Augen geschlossen waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht
getrenn, schlaff herunterhingen, war er der erste, der seinen Bildern offene
Augen gab, sie die Hände ausstrecken und auf schreitenden Füßen stehen ließ.
Aber so kunstreich Dadalus war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine
Kunst, und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins
Elend. Er hatte einen Schwestersohn, Namens Talos, den er in seinen eigenen
Künsten unterrichtete, und der noch herrlichere Anlagen zeigte, als sein Oheim
und Meister. Noch als Knabe hatte Talos die Töpferscheibe erfunden; den
Kinnbacken einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen, gebrauchte er als
Säge und durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen; dann
ahmte er dieses Werkzeug in Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fort—
lufender Zähne einschnitt, und wurde so der gepriesene Erfinder der Säge.
Ebenso ersand er das Drechseleisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme verband,
von welchen der eine stille stand, während der andere sich drehte. Auch andere
künstliche Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb
sich damit hohen Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des
Schülers moͤchte größer werden, als der des Meisters, der Neid übermannte
ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Minervas
Burg herabstürzte. Während Dädalus mit seinem Begräbnisse beschäftigt war,
wurde er überrascht; er gab vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde
er von dem Gerichte des Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und schuldig
befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er
weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem Könige Minos eine