Full text: Deutsches Lesebuch für Lehrer- und Lehrerinnen-Seminare

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heben, müssen sich den Hals ausrecken, den Leib verkrümmen, 
aber sehen tun sie alle. Und wer nicht die Sonne selber sieht, 
zu dem dringt doch ein blasser Schein hinein, ein Abglanz ihrer 
Herrlichkeit. Von der Fülle ihres belebenden Lichtes werden 
alle gespeist, alle kommen zu ihrem Rechte. 
Die weniger Begünstigten, die das Sonnenlicht erst aus zweiter 
Hand empfangen, werden auf andere Weise entschädigt. Sie be¬ 
kommen recht große, dünne Blattflächen, um selbst das spär¬ 
liche Licht noch ausnutzen zu können. Denn zum Vergnügen 
sitzen sie nun einmal nicht da oben, sie sind keine müßigen Zu¬ 
schauer, die sich in aller Ruhe an einem schönen Schauspiel 
ergötzen wollen. Nein, jetzt heißt es, frisch ans Werk, sich 
tüchtig tummeln, der erste Sonnenstrahl ist für sie das Zeichen 
zur Arbeit. 
Die Blätter müssen die Luft aufsaugen und mit Hilfe des 
Sonnenlichtes in gesunden Pflanzenstoff verwandeln, das ist ihr 
Hauptgeschäft. Aus der Luft müssen sie die Nahrungsstoffe 
herbeischaffen, die der Baum zu seinem Wachstum braucht, und 
durch das Blattgrün in den Zellen ihres Gewebes werden sie 
dazu instand gesetzt. Während aber die Blätter da oben fleißig 
am Werke sind, wird unten in der dunkeln Erde mit derselben 
Emsigkeit gearbeitet. Es ist die Wurzel, die hier rastlos schafft. 
Denn der Baum ist mit den Nahrungsstoffen der Luft noch nicht 
zufrieden, auch das Wasser will er ausnutzen; viele wertvolle 
Salze sind nämlich darin enthalten, die gut verwendet werden 
können. Auch diese Salze werden im Lichte durch das Blattgrün 
verarbeitet, und die Blätter da oben mit ihrem ungeheuren Taten¬ 
drang warten schon ungeduldig auf Zufuhr von unten. 
Die Wurzel muß das Wasser herbeischaffen. Suchend, 
tastend verfolgt sie ihren Weg durch das dunkle Erdreich, 
streckt sich nicht gedankenlos geradeaus, sondern wächst lang¬ 
sam in Schraubenwindungen weiter, vorsichtig, damit ihr nichts 
von den Vorräten der Tiefe entgeht. Stellt sich ihr ein Stein 
in den Weg, so weicht sie zurück und wächst in entgegengesetzter 
Richtung weiter. Trockne, unfruchtbare Stellen läßt sie un¬ 
beachtet liegen, aber in feuchtes Erdreich wächst sie hinein. 
So tappt sie sich hindurch, sucht unermüdlich nach Nahrung, 
und was sie findet, das saugt sie auf, das steigt in der Pflanze 
empor, durch tausend feine Kanäle geleitet, wie das Wasser 
in unsern Leitungsröhren. Die Blätter nehmen den Säften die
	        
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