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Als Theseus auf Kreta gelandet und vor dem Könige Minos erschienen
war, zog seine Schönheit und Heldenjugend die Augen der reizenden Königs—
tochter Ariadne auf sich. Sie gestand ihm ihre Zuneigung in einer geheimen
Unterredung und händigte ihm einen Knäuel Zwirn ein, dessen Ende er am
Eingange des Labyrinthes festknüpfen und den er während des Hinschreitens
durch die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen lassen sollte, bis er an
die Stelle gelangt ware, wo der Minotaurus seine gräßliche Wache hielt. Zu—
gleich übergab sie ihm ein gefeites Schwert, mit dem er dieses Ungeheuer töten
könnte. Theseus ward mit allen seinen Gefährten von Minos in das Labyrinth
geschickt, machte den Führer seiner Genossen, erlegte mit seiner Zauberwaffe den
Minotaurus und wand sich mit allen, die bei ihm waren, durch Hilfe des ab—
gespulten Zwirns aus den Höhlengängen des Labyrinths glücklich heraus. Jetzt
entfloh Theseus samt allen seinen Gefährten mit Hilfe und in Begleitung
Ariadnes, die der junge Held, beglückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er
unerwartet errungen, mit sich führte. Auf ihren Rat hatte er auch den Boden
der kretischen Schiffe zerhauen und so ihrem Vater das Nachsetzen unmöglich ge—
wacht. Schon glaubte er seine holde Beute ganz in Sicherheit und kehrte mit
Ariadne sorglos auf der Dia ein, die später Naxos genannt wurde. Da er—
schien ihm im Traume der Gott Bacchus, erklärte, daß Ariadne die ihm selbst
vom Schicksal bestimmte Braut sei und drohte ihm alles Unheil, wenn Theseus
die Geliebte ihm nicht überlassen würde.
Theseus war von seinem Großvater in Götterfurcht erzogen worden; er
scheute den Zorn des Gottes, ließ die wehklagende, verzägende Königstochter auf
der einsamen Insel zurück und schifffte weiter In der Nacht erschien alsdann,
so erzählt die Sage, Ariadnes Bräutigam, Bacchus, und entführte sie auf den
Berg Brios; dort verschwand zuerst der Gott, bald darauf auch Ariadne.
Theseus aber und seine Gefährten waren über den Verlust der Jungfrau sehr
betrübt. In ihrer Traurigkeit vergaßen sie, daß ihr Schiff noch die schwarzen
Segel aufgezogen hatte, mit welchen es die attische Küste verlassen; sie unter—
ließen, die weißen Tücher aufzuspannen, und das Schiff flog in seiner schwarzen
Trauertracht der Heimatsküste entgegen. Ägeus befand sich eben an der Küste,
als das Schiff herangesegelt kam, und genuß von einem Felsenvorsprunge die
Aussicht auf die offene See. Aus der schwarzen Farbe der Segel schloß er,
daß sein Sohn tot sei. Da erhob er sich von dem Felsen, auf dem er saß,
und im unbegrenzten Schmerze des Lebens überdrüssig, stürzte er sich in die jähe
Viefe. Indessen war Theseus gelandet, und nachdem er im Hafen die Opfer
dargebracht hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, schickte er einen
Herold in die Stadt, die Rettung der sieben Jünglinge und die seinige zu ver—
kündigen. Der Vote wußte nicht, was er von dem Empfange denken sollte, der
ihm in der Stadt zu teil ward. Während die einen ihn voll Freude bewill—
lommneten und als den Überbringer froher Botschaft bekränzten, fand er andere,
die, in tiefe Trauer versenkt, seinen fröhlichen Worten gar kein Gehör schenkten.
Endlich loͤste sich ihm das Rätsel durch die erst allmählich sich verbreitende Nach—
richt vom Tode des Königs Ägens. Der Herold nahm nun zwar die Kränze
in Empfang, schmückte aber damit nicht seine Stirne, sondern nur den Herolds—
stab und kehrte so zum Gestade zurück. Hier fand er den Theseus noch im
Tempel mit der Darbringung des Dankopfers beschäftigt; er blieb daher vor der
Thür des Tempels stehen, damit die heilige Handlung nicht durch die Trauer—
nachricht gestört würde. Sobald das Brandopfer ausgegossen war, meldete er
des Ägeus Ende. Theseus warf sich, vom Schmerze wie vom Blitze getroffen,
zur Erde, und als er sich wieder aufgerafft hatte, eilten alle, nicht unter Freudenjubel,
wie sie es sich gedacht hatten, sondern unter Wehgeschrei und Klageruf in die Stadt.