Full text: Von Wulfila bis zur Sturm- und Drangzeit (1, [Schülerband])

Versuch einer kritischen Dichtkunst 
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ober Städte, sondern ganze Länder und Völker betreffen. Die Per¬ 
sonen müssen die ansehnlichsten von der Welt, nämlich Könige und 
Helden und große Staatsleute sein. Die Fabel muß nicht kurz, 
sondern lang und weitläuftig werden und in dieser Absicht mit vielen 30 
Zwischenfabeln erweitert sein. Alles muß darin groß, seltsam und 
wunderbar klingen, die Charaktere, die Gedanken, die Neigungen, die 
Affekte und alle Ausdrückungen, das ist, die Sprache oder die Schreib¬ 
art. Kurz, dieses wird das Meisterstück der ganzen Poesie. . . 
Ein Gedicht hält . . das Mittel zwischen einem moralischen Lehr¬ 
buche und einer wahrhaftigen Geschichte. . . Die Poesie . . ist so er¬ 
baulich als die Moral und so angenehm als die Historie; sie lehret 
und belustiget und schicket sich für Gelehrte und Ungelehrte. . . 
Aus dem 4. Kapitel: Von der Fabel. 
2. 
. . Wir können . . das Wunderbare in drei Gattungen einteilen, 
davon die erste alles, was von Göttern und Geistern herrühret, die 
andre alles, was von Glück und Unglück den Menschen und ihren 
Handlungen entsteht, die dritte, was von Tieren und andern leblosen 
Dingen kommt,-in sich begreift. . . Sowohl das Gute, als das Böse 
kann wunderbar werden, wenn es nur nicht etwas Gemeines und 
Alltägliches, sondern etwas Ungemeines und Seltsames ist; ingleichen 
wenn es von großer Erheblichkeit zu sein scheint, welches aus dem 
Einflüsse zu beurteilen ist, bett es in der Welt hat. . . Da nun die 
Poesie das Wundersame liebet, so beschäftiget sie sich auch nur mit 10 
lauter außerordentlichen Leuten, die es entweder im Guten oder 
Bösen aufs Höchste gebracht haben. . . Daher sucht sich ein kluger 
Poet lauter ungemeine Helden und Heldinnen, lauter unmenschliche 
Tyrannen und verdammliche Bösewichter aus, seine Kunst daran zu 
zeigen. . . Nur die Natur und Vernunft muß wie allenthalben, 
also auch hier nicht aus den Augen gesetzet werden. . . Die dritte 
und letzte Gattung des Wunderbaren . . braucht der Poet am 
wenigsten, weil er sich mehrenteils mit den Menschen beschäftiget und 
das übrige nur in so weit braucht, als es hierzu dienlich sein kann. 
. . Das beste und vernünftigste Wunderbare ist, wenn man auch bei 20 
Tieren und leblosen Dingen nur die Wunder der Natur recht nach¬ 
ahmet und allezeit dasjenige wählt, was die Natur am vortrefflichsten 
gemacht hat. . . 
Aus dem 5. Kapitel: Von dem Wunderbaren in der Poesie.
	        
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