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247. Gertrud.
(Nach Schillers „Wilhelm Teil“.)
Karl Gude.
Gertrud, Stauffachers Frau, tritt nur in einer Szene des Dramas auf
5 und zwar im Gespräch mit ihrem Gatten. Gedacht wird ihrer dann noch
einmal von Walter Fürst, als Stauffacher in dessen Haus eingetreten ist,
und zwar gleich nach seiner Begrüßung. Walter Fürst nennt sie die
„angenehme Wirtin“, „des weisen Ibergs hochverständ’ge Tochter“, und
freut sich, den Mann begrüßen zu können, dessen Haus durch das
10 Walten der Frau von allen Wanderern, die aus Deutschland nach Welsch¬
land fahren, als eine schöne, gastliche Stätte gerühmt wird. Ist in diesen
Worten Gertrud als herzgewinnende, anmutige und mildtätige Frau ge¬
kennzeichnet, als eine Frau, die den Geist verständigen Waltens und ge¬
winnenden Wohlwollens in einem nicht gewöhnlichen Maße besitzt, so
15 zeigt uns das Gespräch mit ihrem Manne, daß ihr Blick noch weiter reicht
als über die Enge des Hauses und ihr Herz noch für Größeres und
Höheres schlägt als für das Wohl und für die Ehre der Wohnstätte.
Schon lange hat sie als liebende und aufmerksame Gattin, der nichts ent¬
geht, was in dem Herzen des Mannes sich bewegt, bemerkt, daß ihn
20 ein Kummer drückt, hat in der Stille, ohne neugierig zu forschen
und zu fragen, mit inniger Teilnahme erwogen, was wohl der Grund
desselben sein könnte, hat als einsichtige Frau nicht nur richtig erkannt,
daß die Bedrückung der Schweiz und die Pläne des Kaisers von Öster¬
reich es sind, die den Gatten bekümmern, sondern auch bereits die
25 Mittel und Wege erwogen, durch die das Geschick, das dem Vater¬
lande droht, abgewandt werden kann. Das tut nur eine Frau, deren Blick
und Herz auch auf das Wohl des Vaterlandes gerichtet ist. Wie hoch
sie dieses über das eigene Wohlbefinden stellt, wie wertlos ihr dieses ist,
wenn das Ganze leidet, wenn dem Volke, dem sie angehört, die Frei-
30 heit und die Ehre fehlen, geht daraus hervor, daß sie bereit ist, den Tod
der Tyrannei und dem Wohlleben vorzuziehen, daß sie vor dem Kampfe
nicht zurückschreckt und mit beredten Worten das unentschlossene Denken
des Mannes in Taten umzusetzen weiß, wobei die richtige Einsicht, die
sie überall an den Tag legt, das politisch gebildete Weib verrät.
35 Der Kampf, zu dem sie anfeuert, gilt dem Heiligsten, was es gibt,
gilt der Unabhängigkeit, der Freiheit und der Ehre des Vaterlandes, gilt
nicht bloß der politischen, sondern auch der sittlichen Existenz ihres
Volkes; darum kann sie mit Gottvertrauen auf dessen Erfolg blicken
und sprechen: Gott ward uns nicht verlassen und der gerechten Sache
40 gnädig sein. Woher, fragen wir, kommt der Frau dieser hohe Sinn und
diese tiefe Einsicht? Der Dichter hat uns darüber nicht im Zweifel ge¬
lassen. Beides hat sie erworben in dem väterlichen Hause. Dort hat sie
aufmerksamen Sinnes gelauscht, wenn bei dem Vater sich des Volkes