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Wenn aber auch Byzanz nur widerwillig die Wiederaufrichtung des West¬
reiches duldete, so hatte doch eine wichtige Entwicklung mit Karls Krönung
ihren Abschluß gefunden. Jetzt erst war die Völkerwanderung beendet; denn
romanische und germanische Völker waren nun in einem Staatswesen als gleich¬
berechtigte Genossen vereint und bildeten so ein Reich, das als eine Wieder- 5
gebürt des römischen Reiches angesehen werden konnte.
Karl aber sah sich am Ziele. Sachsen, Bayern, Langobarden, Avaren,
Slavonen, Briten waren besiegt, den Dänen und Arabern Furcht und Be¬
wunderung eingeflößt, und jetzt war ihm auch das gelungen, was allen seinen
Taten erst dauernden Wert und Einfluß verlieh. 10
267. Ottos des Großen Charakter.
Friedrich Wilhelm v. Giesebrecht.
Otto I. starb im Jahre 973, nachdem er das neunundsechzigste Jahr
vollendet hatte, im siebenunddreißigsten Jahre seines Königtums, im zwölften
seiner kaiserlichen Gewalt. 15
Sein Tod war ein Weltereignis; denn schon die Zeitgenossen hatten
die gewaltige Bedeutung des Mannes erkannt und gaben ihm den Beinamen
des Großen. Überall mußte man den Verlust des mächtigen Fürsten fühlen,
in nächster Nähe und in weitester Ferne. Wie tief trauerte Sachsen, das
unter ihm zu früher nie geahnter Blüte gediehen war! Man sah es als eine 20
besondere Fügung an, daß selbst die Erde diesem König neue Schätze ge¬
spendet hatte und damals in Sachsen das erste edle Metall in den Gruben
zu Goslar gefunden wurde. Sachsens goldene Zeiten hießen bald die Tage
seiner Regierung, und die Alten wurden nicht müde, der Jugend die
Herrlichkeit jenes goldenen Zeitalters zu preisen. 25
Weiter aber schlich durch alle Gaue des deutschen Landes die Trauer-
klagé um den großen Kaiser. Wer hätte es nicht gewußt und bedacht,
daß durch seine Mannheit und durch seine Klugheit allein das deutsche
Volk zum ersten des Abendlandes erhöht war und die Geschichte der lateini¬
schen Christenheit in seinen Händen trug, daß die lange darniedergehaltene, 30
aber noch ungebrochene Kraft Deutschlands durch ihn erst wieder sich frei¬
gemacht und Geltung verschafft hatte! Hatte denn nicht die römische
Kaiserkrone auf seinem Haupte gestrahlt, und er auf demselben Throne ge¬
sessen, den einst der mächtige Frankenkönig unvergeßlichen Andenkens,
Karl der Große, eingenommen hatte? 35
Und nicht seinen glänzenden Taten allein, sondern auch seiner Person
galt die Verehrung und Bewunderung, die er in der letzten Zeit seines
Lebens und nach seinem Tode genoß. Der erste Blick ließ in ihm den ge¬
born en Herrscher erkennen, dem das Alter nur neue Hoheit und Majestät
verliehen hatte. Seine Gestalt war fest und kräftig, aber dabei nicht ohne 40
Leichtigkeit und Anmut in der Bewegung; noch in den späteren Jahren
war er ein rüstiger Jäger und gewandter Reiter. Im gebräunten Gesicht
blitzten helle, lebhafte Augen; spärliche graue Haare bedeckten das Haupt.