Full text: Deutsches Lese- und Bildungsbuch für katholische Präparandenanstalten

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darüber geknüpft, Tücher auch über den unteren Teil des Gesichts. Und doch 
waren der Mehrzahl Ohren und Nasen erfroren und feuerrot; erloschen lagen 
die dunklen Augen in ihren Höhlen. Selten trug einer Schuhe oder Stiesel; 
glücklich war, wer in Filzsocken oder in weiten Pelzschuhen den elenden Marsch 
5 machen konnte. Vielen waren die Füße mit Stroh umwickelt, mit Decken, 
Lappen, dem Fell der Tornister oder dem Filz von alten Hüten. Alle wankten, 
auf Stöcke gestützt, lahm und hinkend. Auch die Garden unterschieden sich 
wenig von den übrigen; ihre Mäntel waren verbrannt, nur die Bärenmützen 
gaben ihnen noch ein militärisches Ansehen. So schlichen sie daher, Offiziere und 
10 Soldaten durcheinander, mit gesenktem Haupte, in dumpfer Betäubung. Alle waren 
durch Hunger und Frost und unsägliches Elend zu Schreckensgestalten geworden- 
Tag für Tag kamen sie jetzt auf der Landstraße heran, in der Regel, 
sobald die Abenddämmerung und der eisige Winternebel über den Häusern lag. 
Gespensterhaft erschien das lautlose Auftauchen der schrecklichen Gestalten, ent- 
15 setzlich die Leiden, welche sie mit sich brachten; die Kälte in ihren Leibern sei 
nicht fortzubringen, ihr Hunger sei nicht zu stillen, behauptete das Volk. Wurden 
sie in ein warmes Zimmer geführt, so drängten sie mit Gewalt an den heißen 
Ofen, als wollten sie hineinkriechen; vergebens mühten sich mitleidige Haus¬ 
frauen, sie von der verderblichen Glut zurückzuhalten. Gierig verschlangen sie 
20 das trockene Brot; einzelne vermochten nicht aufzuhören, bis sie starben. Bis 
nach der Schlacht bei Leipzig lebte im Volke der Glaube, daß sie vom Himmel 
mit ewigem Hunger gestraft seien. Noch dort geschah es, daß Gefangene in 
der Nähe des Lazaretts sich die Stücke toter Pferde brieten, obgleich sie bereits 
regelmäßige Lazarettkost erhielten; noch damals behaupteten die Bürger, das sei 
25 ein Hunger von Gott; einst hätten sie die schönsten Weizengarben ins Lager¬ 
feuer geworfen, hätten gutes Brot ausgehöhlt, verunreinigt und auf den Boden 
gekollert, jetzt seien sie verdammt, durch keine Menschenkost gesättigt zu werden. 
Überall in den Städten der Heerstraße wurden für die Heimkehrenden 
Lazarette eingerichtet, und sogleich waren alle Krankenstuben überfüllt; giftige 
30 Fieber verzehrten die letzte Lebenskraft der Unglücklichen. Ungezählt sind die 
Leichen, welche herausgetragen wurden; auch der Bürger mochte sich hüten, daß 
die Ansteckung nicht in sein Haus drang. Wer von den Fremden vermochte, 
schlich sich deshalb nach notdürftiger Ruhe und hoffnungslos der Heimat zu. 
Die Buben auf der Straße aber sangen: 
35 „Ritter ohne Schlvert, 
Reiter ohne Pferd, 
Flüchtling shne Schuh', 
Nirgends Rast noch Ruh'! 
So hat sie Gott geschlagen 
40 Mit Mann und Roß und Wagen!" 
und hinter den Flüchtlingen gellte der höhnende Ruf: „Die Kosaken sind da!" 
dann kam in die flüchtige Masse eine Bewegung des Schreckens, und schneller 
wankten sie zum Tore hinaus. 
Das waren die Eindrücke des Winters von 1813!
	        
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