Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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heit waren nicht seine Tugenden; selbst der Freigebigkeit befleißigte 
er sich nicht; aller persönlichen Teilnahme am Kriege zeigte er sich 
abgeneigt. 
Seit er nach dem Frieden von 1559 nach Spanien zurückgegangen, 
verließ er die Halbinsel nicht wieder. Selbst hier vermied er, von 5 
Ort zu Ort zu reisen, wie die früheren Könige und sein Vater immer 
getan. Er richtete die Residenz in dem Schlosse zu Madrid ein. Er 
verließ es nur, um jenen öden Weg hin, wo kein Baum Schatten und 
kein Vach Mannigfaltigkeit gewährte, nach dem Escurial zu fahren, 
das er zwischen nackten, kleinen Hügeln in einem steinigen Tale Hierony-10 
mitenmönchen zum Aufenthalt und seinem Vater zum Grabmal baute; 
oder um im Frühjahr nach Aranjuez zu gehen, wo er in der Tat die 
Jagd in die Berge begleitete und sich zu Alcalden und Monteros herab¬ 
ließ, doch ohne sie nach etwas anderem zu fragen als nach ihrem 
Amte, und ohne sie von etwas anderem reden zu lassen als von ihrem 15 
Geschäft. Ein jeder, sagt Cabrera, ward nach seinem Stande wohl 
angesehen. Die Sorge für seine niemals feste Gesundheit machte ihm 
die größte Regelmäßigkeit des Lebens zur Pflicht. Er aß dann und 
wann mit seiner Gemahlin oder mit seinen Kindern, aber in der Regel 
allein, überaus mäßig, immer die nämlichen erprobten Speisen, immer 2o 
in derselben Stunde. Auch in höheren Jahren erschien er wohl¬ 
erhalten; es fiel auf, wie sorgfältig, mit wie vornehmem Anstand 
er gekleidet war. Sein Sinn war, Würde mit Freundlichkeit zu ver¬ 
binden; er sagte nie ein kränkendes Wort; er wußte einen jeden zu- 
friedengestellt zu entlassen. Ms er einmal nach Alcala kam, hat er 25 
nicht allein Vorlesungen besucht, sondern bei einer Promotion, der er 
beiwohnte, zwei Realen und zwei Paar Handschuhe, die jeder Doktor 
erhielt, angenommen; denn auch er war Doktor. Zuweilen finden 
mir ihn noch im Gehölz bei Segovia, bei den aragonesischen Cortes, 
einmal in Lissabon, übrigens immer zu Hause. Anfangs erschien er 30 
hier bei den Festen des Volkes; später ließ er sich das Jahr ein paar¬ 
mal auf einer Galerie sehen, welche von seinen Zimmern nach seiner 
Kapelle ging: in den letzten Jahren unterließ er auch dies und blieb 
immer in seinen Gemächern. Da gewöhnte er sich zu dem Ausdrucke 
einer ganz unerschütterlichen Ruhe, eines bis zur Vollkommenheit aus- 35 
gebildeten Ernstes, einem Ausdrucke, der eine völlig unterwerfende 
Wirkung hatte. Selbst geübte und belobte Redner kamen aus dem 
Texte, wenn sie vor ihm standen, wenn er sie, wie er pflegte, mit den 
Äugen von oben bis unten maß. Er sagte alsdann: „Beruhigt Euch." 
Wit einem leisen Lächeln antwortete er. 40 
Girardet-Puls.Reling, Lesebuch III. 
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